Kommentar:Abschied und Neustart

Der Staat braucht Geld und macht Schulden wie nie. Die Union will direkt wieder zu Sparregeln zurückkehren - aber das wäre falsch.

Von Cerstin Gammelin

R-Wert, Inzidenz, Epidemiologie - im Corona-Jahr hat man so viele neue Begriffe lernen müssen, dass die gerade wieder aufgetauchte Schuldenbremse wie eine alte Bekannte daherkommt. Bis zur Pandemie lag die Spar-Regel im Grundgesetz wie in einem wohligen Dauerschlaf, sie war nice to have, niemand brauchte sie wirklich, weil gar keine Schulden gemacht werden mussten. Dann kam das Virus. Und seither ist die Schuldenbremse wieder in (fast) aller Munde. Zurecht.

Die Pandemie hat den Bundeshaushalt aus den Angeln gehoben, es herrscht Unsicherheit, wann wieder so etwas wie Normalität einziehen kann. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel Geld ausgegeben wie die große Koalition jetzt gegen das Virus. Noch nie hat sie so viele Schulden gemacht, um gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen zu erhalten. Betriebe, Kultureinrichtungen, Sanatorien, Dienstleister, Ämter - alle sollen schnell starten können, wenn man das Virus im Griff hat. Man muss sich das einmal vorstellen: dreißig Prozent der Ausgaben sind auf Pump finanziert - so viel wie nie zuvor. Selbst in der Finanzkrise 2009/10 waren es nur 15 Prozent.

Die Koalition kann nur deshalb mit Wumms gegen die Pandemie ankämpfen, weil sie die Spar-Regel in den Keller verbannt hat. Bis zum Ende der Pandemie soll sie da bleiben. Das klingt vernünftig. Zurecht will niemand gegen eine Krise ansparen, die Bürgern wie Unternehmern viel abverlangt. Doch wie in der Debatte um die Lockerungen für Schulen, Kitas, Friseure und Restaurants taucht nun auch bei den Finanzen des Bundes immer drängender die Frage auf, wie lange die Pandemie und ihre Folgen noch so großzügig finanziert werden können - und wie der Weg aussieht zurück zu einem normalen Haushalt, der nur noch so viele Schulden macht, wie das Grundgesetz erlaubt.

Man hat sich in der Pandemie daran gewöhnt, dass die radikaleren Vorschläge zur Absenkung der Infektionszahlen aus dem Kanzleramt kommen. Und trotzdem war es eine Überraschung, als das Kanzleramt kürzlich auch eine radikal klingende Idee lieferte, wie man die Schuldenbremse retten könnte. Kanzleramtsminister Helge Braun ließ wissen, dass er es für das Sinnvollste halte, die Regel für einige Jahre auszusetzen, um sie dann schrittweise wieder einzusetzen. Ein kluger Vorschlag - jedenfalls in der Sache. Politisch dagegen klang er wohl in den Ohren führender Unionspolitiker wie der Aufruf zur Revolution. Schuldenbremse aussetzen? Kommt nicht in Frage! Man schlug zurück und den eigenen CDU-Strategen in die Flucht. Wie blank die Nerven liegen, zeigte sich an einem Tweet von Braun: Ein rotes Herzchen mit Schuldenbremse.

Trotzdem, die Union wird sich nicht ewig drücken können vor klaren Aussagen, wie sie die Finanzen nach der Krise in die Normalität führen will. CDU und CSU stehen dabei vor einem besonderen Problem. Die Schuldenbremse gehörte wie die Schwarze Null, also der ausgeglichene Haushalt ohne zusätzliche Schulden, zu den verbliebenen programmatischen Aushängeschildern. Von der Schwarzen Null redet in der Pandemie schon lange keiner mehr: Bleibt nur noch die Schuldenbremse.

Es ist Zeit, dass die Union hier in der Realität ankommt und sich ein Stück weit freimacht von der Emotionalität, mit der sie an alten Symbolen hängt. Die Zeit nach der Pandemie wird eine andere sein als die Zeit vor ihr es war. Das gilt natürlich auch für die Finanzen. Noch kann keiner die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schneisen vermessen, die das Virus geschlagen hat. Noch kann man nur hoffen, dass bis zum nächsten Winter alle, die es wollen, geimpft werden konnten und es eine neue Art von Alltag geben kann. Sicher ist das alles nicht.

Es wäre klug, die Unsicherheit der Pandemie in die finanziellen Planungen des Bundes einzupreisen. Wer seriös nicht voraussagen kann, wann das Virus besiegt ist und die Schäden vermessen werden können, kann auch nicht wissen, wie viel Geld die Koalition noch braucht im Kampf gegen die Pandemie. In so einer Situation ist es hilfreich, einen Pfad aufzuzeichnen, entlang dessen man zur Spar-Regel zurückkehren kann. Statt wie die Union zu versprechen, im Jahr 2022 wieder einen Haushalt mit Schuldenbremse vorzulegen - und damit die Nettokreditaufnahme von geplant 180 Milliarden Euro in diesem Jahr auf zehn Milliarden Euro im kommenden zu begrenzen - sollte die Koalition Kriterien festlegen, an denen sich die Nettokreditaufnahme ausrichtet. Das kann die Zahl der Arbeitslosen sein oder auch das Wirtschaftswachstum. Läuft es gut, kann es schrittweise zurück zur Schuldenbremse gehen. So ähnlich fordert das übrigens gerade die Wirtschaft als Öffnungsperspektive.

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