Kolumne: Silicon Beach:Geschichtenerzähler

Kolumne: Silicon Beach: Illustration: Bernd Schifferdecker

Illustration: Bernd Schifferdecker

Neue Modeworte der Technik­branche: Probleme lösen. Und wenn diejenigen, mit denen sich Geld verdienen lässt, nicht genug Probleme haben, werden diese eben erfunden.

Von Jürgen Schmieder

Es gibt auf vielen Messen wie dem Techniktreffen CES in Las Vegas drei große Ärgernisse. Erstens: Kostenloses Trinkwasser kann ausschließlich von erfahrenen Wünschelrutengängern gefunden werden. Zweitens: Sämtliche Räume sind bis auf knapp unter den Gefrierpunkt gekühlt. Drittens: Visitenkarten. Die Leute werfen damit um sich, als wären es Dollarscheine im Strip Club - wobei erwähnt werden sollte, dass Einladungen in diese Etablissements nach Messeschluss, je nach Gesinnung, das vierte große Ärgernis oder aber willkommene Zerstreuung darstellen.

Das Aussortieren der Visitenkarten daheim ist eine Mischung aus Memory und Puzzle: Wer war das noch mal? War die Firma interessant, die Idee revolutionär? Es ist ein schöner Rätselspaß, man entdeckt völlig neue Berufe, weil heutzutage niemand mehr Journalist (viel besser: Content Creator) oder PR-Stratege (jetzt: Brand Experience Manager) ist. Empfangsleute (Director of First Impressions), Designer (Crayon Evangelist) oder Entwickler (Creator of Opportunities) haben die Bezeichnung ihrer Jobs ebenfalls verfeinert, und dann hält man eine Visitenkarte in der Hand, auf der steht: Chief Storytelling Officer. Also: Chef-Geschichtenerzähler.

Apple-Gründer Steve Jobs hat bei der Präsentation des iPhone im Jahr 2007 kein Wort darüber verloren, dass dieses Gerät die Welt zu einem besseren Ort machen oder die Menschheit retten würde; er hat 51 Minuten lang erklärt, wie unfassbar cool dieses Ding doch sei. Es ging damals noch ums Habenwollen und nicht ums Brauchenmüssen - diese Zeiten sind vorbei. Es genügt nicht mehr, wenn der Brand Experience Manager von der Disruption gleich mehrerer Branchen redet, der Crayon Evangelist das Bild einer gesünderen Welt zeichnet oder der Creator of Opportunities sein Unternehmen als Einhorn darstellt. Heute braucht es schon etwas mehr Überzeugungsarbeit.

Die Geschichten der Chief Storytelling Officer erzeugen grandiose Messe-Momente

Es ist sehr viel versprochen worden seit diesem Auftritt von Jobs, und es hat sich auch sehr viel verändert. Wir können fast alles liefern lassen (sogar Benzin, obwohl seit Jahren selbstfliegende Elektrotaxis angekündigt werden), wir können mit jedem auf der Welt per Video kommunizieren (solange beide über Internet verfügen und ein passendes Gerät besitzen), wir haben leichteren Zugang zu (oftmals falschen) Informationen. Die angekündigten Revolutionen bei der Blutabnahme (Theranos) oder der Bürogestaltung (Wework) aber sind gescheitert, es gibt noch immer 800 Millionen Menschen, die keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser haben - nicht so wie auf einer Messe, wo man eben mal eine Stunde lang durstig ist.

Die Leute bemerken, dass die Technikbranche vor allem den Teil der Welt revolutioniert, für den sie sich interessiert - also jenen, in dem sich sehr viel Geld verdienen lässt. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, nur: Was bedeutet das, wenn die tollste Eigenschaft an einem vorgestellten Auto der überdimensionale Bildschirm oder das Soundsystem sein soll? Es geht ganz offensichtlich eben weniger um wichtige Themen wie Sicherheit oder Nachhaltigkeit als vielmehr darum, dass jemand, der sein Fahrzeug nicht mehr selbst lenken muss, Zeit für andere Dinge hat - und die Unterhaltungsbranche somit noch ein bisschen mehr Zeit (und damit Geld) von ihren Kunden geschenkt bekommt.

Es geht bei sehr vielen Innovationen der Technikbranche wie Lieferdiensten, Fahrvermittlern und Heimfitnessgeräten vor allem darum, das Leben der Leute, die sich das leisten können, ein klein wenig bequemer zu machen - der Mensch weiß ja erst seit digitalen Assistenten wie Alexa, wie mühsam es ist, den Lichtschalter per Finger zu betätigen oder auf die Uhr zu sehen. Aber das ist zu wenig für eine Branche, zu deren Selbstverständnis es gehört, die Welt zu retten, und die das jedem mitteilt, der sich nicht rechtzeitig ins Ausland absetzt. Sie hat ein Problem-Problem, weil die Leute irgendwann doch wissen wollen: Brauche ich das wirklich, und hilft es der Welt?

Das führt zum Beruf des Chief Storytelling Officer, zur verzweifelten Suche nach einem Problem für die schon gefundene Lösung - und zu grandiosen Messemomenten. Der Geschichtenerzähler eines Getränkekühlers besteht, in einem auf knapp unter den Gefrierpunkt gekühlten Raum, darauf, dass dieses Gerät nicht nur cool sei (das ist es wirklich), sondern dass bald Getränke-Kühlschränke aus Supermärkten verschwinden würden und die Firma darüber ein Klimaaktivist sei. Es ist, und für diese Assoziationskette braucht man wirklich einen Geschichtenausdenker: Weltenrettung über Energieersparnis durch individualisierte Getränkekühlung.

Oder die nette Frau, die offenbar noch nie was von Body Positivity gehört und deshalb mangelndes Selbstbewusstsein als Wurzel aller menschlicher Übel ausgemacht hat - weshalb jeder fürs Wohlbefinden die Software brauche, über die er sich selbst dünner und muskulöser wahrnimmt. Oder die Feststellung, dass genau dieses schlaue Schloss an der Haustür den Puls der Eigentümer um etwa fünf Schläge pro Minute senke und somit die Lebenserwartung signifikant erhöhe. Oder, ja wirklich: dass die Umwelt geschont werde, wenn der Mensch nicht mehr dort Sport treibe und mit seiner Lauferei seltene Pflanzen kaputt trampele, sondern daheim auf einem Fitnessgerät.

Wenn man als Content Creator so in diesem Iglu von Saal steht , nach Wasser sucht und mit Visitenkarten beworfen wird, wird einem klar: Die Menschheit hat wirklich gewaltige Probleme.

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