Kolumne: Das deutsche Valley:Wer nicht hören wollte

Marc Beise, 
Kol. das deutsche Valley
(Foto: Bernd Schifferdecker/Bernd Schifferdecker)

Home-Office funktioniert, klappt ja alles mit der Digitalisierung? Irrtum, sagt Stahlmanager Gisbert Rühl, den man einen B2B-Papst nennt.

Von Marc Beise

Je länger das Coronavirus die Welt quält, desto schaler klingen die üblichen Aussagen über die wirtschaftlichen Folgen. Die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber nicht nur Drama, sondern auch Chance. Durchbruch des Home-Office. Veränderte Verhaltensweisen, die bleiben werden. Ein Schub für die Digitalisierung. Man fragt sich: Stimmt das eigentlich, oder wird bald wieder alles sein wie zuvor? Zeit für einen Anruf bei Gisbert Rühl, wohnhaft in Essen, beruflich in Duisburg, wo er mit 70 Mitarbeitern den Milliardenkonzern Klöckner & Co. steuert, ein Ruhr-Unternehmen von 1906, früher Familie, jetzt an der Börse, weltweit tätiger Stahlhändler, 100 000 Kunden, rund 8000 Mitarbeiter in 13 Ländern.

Rühl wird in der einschlägigen Szene der "B2B-Papst" genannt, weil er wie kein anderer Industrieboss die Digitalisierung propagiert und auch im eigenen Unternehmen vorantreibt. Ein harter Job, denn hey, was könnte weniger digital sein als der Stahlhandel, wo Traditionsunternehmen im Höllenfeuer schwere Teile gießen, die dann an Maschinenbauer und Autokonzerne verkauft werden?

Rühl hat sich schon vor Jahren namentlich im Silicon Valley die B2C-Welt angesehen, also die Geschäfte mit dem Endverbraucher, und will deren Erfolgsprinzip dorthin übertragen, wo Deutschland weltweit immer noch Spitze ist: beim Geschäft zwischen Unternehmen. Apple, Google, die Cloud - das ist alles weitgehend in amerikanischer Hand, aber der Kampf um die Industrie läuft noch, und Deutschland hat nach Rühls Überzeugung keine so schlechten Karten. Wenn das Land sich endlich richtig digitalisieren würde.

Der Anruf erreicht Rühl ausgerechnet in München, und das erinnert wieder an die Dimension der Corona-Krise. Der Westfale war immer stolz darauf, zwei Drittel seiner Dienstzeit unterwegs gewesen zu sein, rund um die Welt an den 60 Standorten, häufig in den Vereinigten Staaten. Jetzt hieß es auch für ihn lange Home-Office, bis ihm die Decke auf den Kopf fiel. Also ist er wieder unterwegs, aber nicht New York oder Tokio, sondern München; in diesen Tagen nimmt man, was kommt.

Rühl wäre nicht Rühl, wenn er die Rückkehr ins Büro nicht auch programmatisch einkleiden würde. Es sei, sagt er, "psychologisch wichtig für die Mitarbeiter, wenn der CEO auch wieder im Büro zu greifen ist". Ist es nicht eher so, denkt man sich da, dass es für Chefs psychologisch wichtig ist, ihre Mitarbeiter wieder greifen zu können; ist vielleicht ein Henne/Ei-Problem.

Die Verlagerung der Geschäftstätigkeit nach Hause, berichtet der Manager, sei für seinen Konzern kein Problem gewesen: "Meine Leute hatten alle ihre Daten auf dem Laptop, und den konnten sie problemlos zu Hause anschließen. Das macht keinen Unterschied." Wettbewerber allerdings, das beobachtet der Klöckner-Mann, hätten sich da deutlich schwerer getan. Wie überhaupt der deutsche Mittelstand in der Mehrheit nicht einmal auf das Arbeiten im Home-Office ordentlich vorbereitet gewesen sei. Es konnte plötzlich der Außendienstler nicht mehr ausrücken, und schon lagen die Geschäfte danieder. Viele haben da jetzt aufgeholt, das Arbeiten via Netz klappt, aber was ist damit gewonnen für den Digitalstandort Deutschland, fragt Rühl: "Ist ja prima, dass Home-Office funktioniert, aber das sagt nun wirklich nichts darüber aus, ob ein Unternehmen fit ist für die Digitalisierung."

"Bei uns darf jeder sich digital schulen lassen, und zwar während der Arbeitszeit."

Ein digital transformiertes Unternehmen ist für Rühl eines, das "die Kernprozesse automatisiert hat". Nur solche sogenannten Plattform-Unternehmen können schnell genug wachsen bei sinkenden Kosten (der Kenner spricht von: skalieren) und in der digitalen Welt von morgen überleben. Beispiel Amazon: Der größte Einzelhändler der Welt hat keine Verkäufer mehr. Und wird immer reicher.

Auch bei Klöckner ist die Transformation noch längst nicht durch, hemmen die Beharrungskräfte des Alten. Viele Kunden im Stahlhandel bestellen weiter per Telefon oder Fax, "und das dürfen wir ihnen auch nicht übel nehmen, sonst gehen sie zur Konkurrenz". Aber alles, was nach dem Fax kommt, muss digitalisiert werden. Und das ausgerechnet im Stahlhandel, wo es nicht einmal normierte Produktbezeichnungen gibt: jede Bestellung ein Unikat. Klöckner nutzt verstärkt auch künstliche Intelligenz, um die Prozesse dennoch zu automatisieren.

Je besser ihm das gelingt, Rühl sagt das ganz offen, desto mehr Mitarbeiter kann er "aus diesen Kernprozessen herausziehen". Weshalb das Unternehmen gerade dabei ist, mehr als 1200 Stellen zu streichen. Seit Jahren hat er seinen Mitarbeitern gepredigt, dass in der Arbeitswelt von morgen nur noch der gebraucht wird, der sich digital weiterbildet. "Bei uns darf jeder sich digital schulen lassen, und zwar während der Arbeitszeit", sagt der Chef und ist immer ein bisschen fassungslos, dass dieses Angebot nur etwa ein Drittel der Belegschaft mit Begeisterung und ein weiteres Drittel nolens volens angenommen hat. Das letzte Drittel, sozusagen die Digital-Verweigerer, hat nun beim Stellenabbau die "schlechteren Karten", sagt Rühl und prophezeit, dass das ein Trend für ganz Deutschland ist.

Auch er selbst, immerhin schon 61, will sich überflüssig machen, aber nur im Kerngeschäft. Sein Nachfolger, der frühere Thyssenkrupp-Vorstandsvorsitzende Guido Kerkhoff, übernimmt im Herbst erst das Europa-Geschäft, im kommenden Sommer die Gesamtführung. Dann will sich Rühl in den Aufsichtsrat der von Klöckner initiierten Stahlhandelsplattform Xom Materials zurückziehen. Diese steht auch anderen Stahlhändlern offen, um zu "skalieren". Sozusagen das Amazon der Stahlindustrie, made in Germany.

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