Kolumne: Allmendingers Welt:Sozialstaat 2.0

Illustration Bernd Schifferdecker

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Illustration: Bernd Schifferdecker

Kindheit und Jugend bereiten auf die Erwerbsarbeit vor, im Alter erholt man sich. Dieses männerorientierte Arbeitssystem ist überholt.

Von Jutta Allmendinger

Die Lebensverläufe von Menschen faszinieren schon immer. Unzählige Abbildungen von Lebenstreppen zeugen davon, alle aufgebaut wie ein Medaillenpodest. Links der Bub mit Ranzen und Büchern. In der Mitte der junge Mann, umgeben von Frau und Kindern. Rechts der Greis, mit gekrümmtem Rücken und Stock. Die Lebenstreppen sind Männertreppen, sie zeigen Männer im Kreise ihrer Familie. Die Erwerbsarbeit bleibt dahinter verborgen. Sie tritt im Aufbau unseres Sozialstaats hervor. Kindheit und Jugend bereiten auf die Erwerbsarbeit vor, im Alter dann erholt man sich von ihr. Beide Modelle folgen einer Dreifaltigkeit des Lebens - und dem ausschließlichen Blick auf Männer. Aber dazu später.

In unserem Sozialstaat ist die am Alter orientierte Dreiteilung des Lebens stark institutionalisiert. Das zeigt sich an den immer noch gängigen Altersnormen beim Eintritt in Bildung und Ausbildung, noch stärker aber beim Übergang von Erwerbsarbeit in die Rente. Unsere Ausbildungssysteme sind perfekt auf diesen Dreitakt ausgerichtet. Die Hochschulen, vollzeitberufliche Ausbildungen und die international gerühmte duale Ausbildung vermitteln einen standardisierten Wissens- und Erfahrungskanon, der dann in dem jeweiligen Tätigkeitsfeld eingesetzt und von einem Betrieb auf den anderen übertragen werden kann. International ist das eher unüblich, weswegen man anerkennend von den Orderly Life Courses der Deutschen spricht, in Abgrenzung von den Disorderly Life Courses anderer Länder. Dort wechseln sich Phasen von Ausbildung und Erwerbsarbeit viel stärker ab.

Ist unsere sozialstaatliche Ordnung wirklich zu feiern? Wird sie nicht seit vielen Jahrzehnten künstlich am Leben erhalten, da wir uns scheuen, die Fundamente des bismarckschen Sozialstaats neu aufzustellen, zeitgemäße Leitplanken einzuziehen? Mindestens drei moderne Entwicklungen sprechen für eine solche Neuausrichtung: die Erwerbstätigkeit von Frauen, der technologische Wandel und die längere Lebenserwartung bei guter Gesundheit.

Die Erwerbstätigkeit von Frauen, erstens, passt nicht in den vom Reichskanzler angedachten Lebensverlauf, der sein Sozialstaatsmodell auf die strikte Arbeitsteilung von Männern und Frauen ausgerichtet hat: hier die bezahlte Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses, dort die unbezahlte Arbeit im Haus, die Erziehung der Kinder, die Pflege der Älteren. Von der insgesamt anfallenden Arbeit wird also nur die Hälfte auf den Markt getragen und bezahlt. Idealerweise wird so die andere Hälfte, die ganze Familie, finanziert. Steuererleichterungen wie das Ehegattensplitting, abgeleitete Renten und die Mitversicherung sind bis heute erhaltene, deutliche Zeichen des Sozialstaats 1.0. Zu ihm passt auch die selten hinterfragte Erwartung, Männer und Frauen sollten gleichermaßen Vollzeit arbeiten. Denn nur so kann die materielle Schlechterstellung der Frauen faktisch behoben, der Weg in Führungspositionen eröffnet, gleicher Lohn für vergleichbare Arbeit gezahlt und ausreichende Renten erwirtschaftet werden. Dabei sehen wir: Doppelte Vollzeit reißt Lücken in die für Familien wichtige Arbeit. Unser Sozialstaat 2.0 braucht deshalb eine Regelarbeitszeit von 32 Stunden für alle, als Durchschnitt über den gesamten Lebensverlauf hinweg. Nur so kann die Gleichstellung von Männern und Frauen Realität werden. Und 64 Stunden pro Haushalt ist bei Weitem mehr als von Bismarck angedacht.

Männer mit höherer Bildung leben um fünf, Frauen um zwei Jahre länger

Der technologische Wandel wiederum kommt immer schneller auf uns zu. Und er achtet nicht auf die Abfolge von Generationen. Unsere Bildungs- und Ausbildungssysteme lassen Menschen ins Ungewisse laufen. Gerade jenen, deren Jobs sich am meisten verändern werden, wird am wenigsten geholfen. Unser Sozialstaat 2.0 braucht deshalb zweitens: eine zweite und dritte Ausbildung, systematisch über den Lebenslauf gedacht. Dazu gehören proaktive, prophylaktische und aufsuchende Hilfssysteme für Beschäftigte. Sie müssen wissen dürfen, wie es mit ihren Tätigkeiten weitergeht. Denn die Zukunft der Menschen wird insgesamt immer länger: Die Lebenserwartung, auch bei guter Gesundheit, ist seit Bismarcks Zeiten stark gestiegen und wird weiter zunehmen. Der einst provokant klingende Satz, 70 sei das neue 60, findet weithin Bestätigung. Dennoch: Das Bild bleibt gemischt. Menschen aller Bildungsstufen haben heute eine höhere Lebenserwartung als noch vor 20 Jahren, aber es bestehen nach wie vor Unterschiede, etwa mit Blick auf den Bildungsstand: Männer mit höherer Bildung leben fünf, Frauen zwei Jahre länger als ihre bildungsarmen Mitmenschen. Diese Entwicklung führt zu Herausforderungen besonderer Art für den deutschen Sozialstaat 1.0, denn er arbeitet mit festen Regelaltersgrenzen für den Übergang zwischen Erwerbstätigkeit und Ruhestand beziehungsweise dem Bezug von Altersrenten. Diese lagen lange Zeit bei 63 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer, heute gilt für Menschen, die nach 1963 geboren wurden, die Regelaltersgrenze von 67.

Diese festen Grenzen sind sicherlich gut zu verwalten, entsprechen aber oft weder den Fähigkeiten der Menschen noch deren Wünschen. So liegen die Frühverrentungen bei Menschen mit starker körperlicher Belastung hoch, während "Kopfarbeiter" weit über das Pensionsalter hinaus arbeiten können und oft auch wollen. Diese Unterschiede erhöhen die Ungleichheit im Alter: Jene mit allemal niedrigem Einkommen müssen empfindliche Rentenabzüge hinnehmen, jene mit allemal guten Renten können ihre Einkommen noch erhöhen.

Die dritte Aufgabe für den Sozialstaat 2.0 ist deshalb: feste Altersgrenzen zu lockern und stärker an die Möglichkeiten und Wünsche der Menschen anzupassen, sozial verträglich und nicht ungleichheitsverstärkend.

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Illustration Bernd Schifferdecker

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