Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Allmendingers Welt:Die Kosten der Arbeit

Nicht nur Arbeitslosigkeit belastet den Staat, sondern auch Erwerbsarmut. Es wird Zeit, die Kosten schlechter Arbeit endlich in den Blick zu nehmen.

Von Jutta Allmendinger

Nehmen Sie ein Blatt Papier. Zeichnen Sie nun die Form auf, von der Sie denken, dass sie die Verteilung des Wohlstands der Menschen in Deutschland am ehesten widerspiegelt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit malen Sie eine Pyramide. In der Vermächtnisstudie von WZB, Die Zeit und Infas wählen 73 Prozent der Befragten diese Form; für mehr als die Hälfte davon läuft die Pyramide nach oben hin besonders spitz zu. Die Ungleichheit zwischen oben und unten wird also als sehr groß wahrgenommen, mit einer extremen Konzentration von Vermögen auf wenige Menschen. Ziehen Sie nun eine horizontale Linie an jener Stelle durch die Pyramide, unterhalb der Menschen Ihres Erachtens nach als arm zu bezeichnen sind. Zeichnen Sie dann einen Punkt in die Pyramide ein, an dem Sie sich selbst verorten. Wie vermögend sind Sie im Vergleich zum Rest der Gesellschaft? Haben Sie den Punkt unterhalb oder oberhalb der Armutsgrenze gesetzt?

Nach den Daten der Vermächtnisstudie verorten sich 11,6 Prozent der Befragten, die erwerbstätig sind, unterhalb der selbstgezogenen Armutslinie. Das entspricht in etwa den Angaben des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, nach welchem etwa neun Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland trotz Erwerbsarbeit arm sind. Das sind 3,4 Millionen der insgesamt 37,7 Millionen Erwerbstätigen.

Millionen Erwerbstätige in Deutschland befinden sich also in einer Situation, die den Normvorstellungen der Deutschen diametral widerspricht. Denn gesellschaftlicher Konsens ist: Erwerbstätigkeit sollte vor Armut schützen. Das meinen weit über 90 Prozent der Befragten. Zudem wird Armut in der Regel mit "Faulheit" und "Untätigkeit" in Zusammenhang gebracht. Für erwerbstätige Arme ist damit nicht nur der Gesellschaftsvertrag gebrochen, sie sehen sich auch einem Stigma ausgesetzt. Welche Folgen hat das für diese Menschen?

Eine 2017 im American Journal of Epidemiology veröffentlichte Studie zeigt, dass erwerbstätige Deutsche, die unter der "objektiven" Armutsgrenze leben, ihre Gesundheit signifikant schlechter bewerten als Erwerbstätige, die nicht arm sind. Dabei sind die jeweiligen soziodemografischen Verhältnisse wie beispielsweise Alter und Bildungsstand berücksichtigt. Aus der Forschung wissen wir, dass Armut und das Gefühl, arm zu sein, die körperliche und psychische Gesundheit einer Person schädigen. Die Menschen sind gestresst, ernähren sich ungesund, rauchen eher, bewegen sich weniger. Schlechte Wohnverhältnisse erschweren die Situation zusätzlich. Und: Armut fördert in den meisten Fällen solche Verhaltensweisen. Die Menschen sind also nicht in Armut geraten, weil sie beispielsweise zu viel Alkohol trinken. Menschen, die arm sind, obwohl sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen, leiden darüber hinaus sicherlich noch an weiteren gesundheitsschädigenden Faktoren. Dazu gehört insbesondere das Gefühl, versagt zu haben und ungerecht behandelt zu werden in einer Gesellschaft, in der man doch von seiner Erwerbsarbeit leben können sollte. Diese persönlichen Kosten von "schlechter", unzureichend bezahlter Erwerbsarbeit sind gleichermaßen Kosten, die zu einer Hypothek für die gesamte Gesellschaft werden. Denn es ist besonders die Armut von Erwerbstätigen, die das Vertrauen in das Gemeinwesen, die Grundlage unseres Zusammenlebens, beschädigt.

Die Folgen darf man nicht unterschätzen, etwa den zunehmenden Druck, auch dann einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, wenn man von dieser nicht leben kann. Dass die dadurch entstehenden Kosten für den Staat sehr hoch sind, zeigen die öffentlichen Haushalte. In der offiziellen Berichterstattung finden sich diese Kosten der Erwerbsarbeit leider nicht, denn noch immer geht man davon aus, dass nur Arbeitslosigkeit kostet, nicht aber Arbeit. 2017 lagen nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Kosten der Arbeitslosigkeit bei etwa 53 Milliarden Euro. Ein äquivalenter Bericht, welche Kosten dem Staat durch Erwerbsarmut, etwa durch Lohnaufstockungen, entstehen, fehlt jedoch.

Um diese Kosten zu ermitteln, muss zuerst berechnet werden, wie viele erwerbstätige Menschen in Deutschland arm wären, wenn der Staat keinerlei soziale Transfers zahlen würde. Hierzu existieren verschiedene Berechnungsmethoden. Allen ist gemein, dass die Erwerbsarmenquote in einem Szenario ohne staatliche Transferzahlungen höher wäre als in einem Szenario mit Sozialtransfers, und zwar zwischen 1,5- und dreimal höher. Doch wie hoch fallen diese armutslindernden staatlichen Leistungen aus? Behelfsweise können wir die Summe der Leistungen heranziehen, die sogenannte "Ergänzer" erhalten, also Personen, die zusätzlich zu ihrem Lohn aus Erwerbstätigkeit auch Arbeitslosengeld II beziehen. 2016 gab es in Deutschland etwa eine Million Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem "Ergänzer". Insgesamt erhielten sie Leistungen von etwa zehn Milliarden Euro. Um auf die gesellschaftlichen Gesamtkosten der Arbeit zu kommen, müsste man aber auch andere staatliche Leistungen hinzurechnen, die jene Erwerbstätigen beziehen, die andernfalls arm wären: Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld, die Förderung von Weiterbildungen sowie steuerbedingte finanzielle Vorteile, wie Kinderfreibeträge oder Ehegattensplitting. Die Liste ist lang. Es wird Zeit, die persönlichen und gesellschaftlichen Kosten von schlechter Arbeit endlich in den Blick zu nehmen. Denn nicht nur Arbeitslosigkeit belastet Staat, Gesellschaft und Menschen - auch die Erwerbsarmut birgt immense Kosten für uns alle.

Dieser Artikel wurde zusammen mit Antonino Polizzi, Studentische Hilfskraft am WZB Berlin, verfasst. WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger und Franziska Augstein schreiben jeden Freitag im Wechsel.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4644554
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.