Süddeutsche Zeitung

Neue Regierung:Das sind die Überraschungen im Koalitionsvertrag

Lesezeit: 4 min

Union und SPD haben sich mehr vorgenommen als viele ihnen zutrauen. Darunter ein Masterplan für künstliche Intelligenz - und endlich ein staatliches Tierwohllabel.

Von Kristiana Ludwig, Helmut Martin-Jung und Henrike Roßbach

Wer den Koalitionsvertrag gründlich liest, macht einige wirtschaftsrelevante Entdeckungen jenseits der ganz großen Themen - erfreuliche, unerfreuliche und skurrile.

Digitalisierung

Geredet wird viel über die Digitalisierung, voran geht es bislang eher langsam. Im Koalitionsvertrag aber findet sich durchaus Konkretes: Bis 2025 wollen die Großkoalitionäre flächendeckend Gigabit-Glasfaseranschlüsse garantieren. Kritiker finden das zu langsam, in Wahrheit aber ist selbst das ein enormer Kraftakt. Schulen, Gewerbegebiete und Krankenhäuser sollen noch in dieser Legislaturperiode angeschlossen werden. Bei der Finanzierung baut man allerdings auf Erlöse aus dem Verkauf von Lizenzen für den neuen Mobilfunkstandard 5G, den man ebenfalls fördern will. Das könnte Schwierigkeiten verursachen.

Ein großes Fass macht die Koalition bei der Mobilität auf. Neue und existierende Mobilitätsformen sollen benutzerfreundlich verknüpft werden. Öffentliche und private Betreiber sollen gemeinsam bundesweit gültige E-Tickets ermöglichen.

Geplant ist zudem ein Masterplan künstliche Intelligenz (KI), mit Frankreich soll ein KI-Zentrum entstehen. Frankreich soll auch Partner sein beim Vorgehen gegen die großen Digitalkonzerne und Plattformen, etwa wenn es um Steuerschlupflöcher geht. Für Start-ups will die neue Regierung nicht nur einen "großen nationalen Digitalfonds" schaffen, sondern auch bürokratische Hürden abbauen.

Bürokratie

Der Kontakt mit der Verwaltung soll für Bürger digital möglich sein, dabei ist sogar von einem zentralen Datenregister die Rede - das wäre ein gewaltiger Schritt, dann müssten die Bürger ihre Daten nur noch einmal eingeben, nicht in jeder Lebenslage aufs Neue. Darum kümmern sollen sich eine zu gründende E-Government-Agentur sowie ein Digitalrat. Nicht geben wird es dagegen eine Koordinierungsstelle im Kanzleramt oder ein Digitalministerium, entgegen dem Rat vieler Experten. Den Betrieben verspricht die nächste Regierung ein drittes Bürokratieabbaugesetz. Die Statistikpflichten sollen verringert werden - nicht zum ersten Mal, aber immerhin. Außerdem sollen alle alten und neue Gesetze auf ihre "Digitaltauglichkeit" überprüft werden.

Bildung & Arbeit

Ihre künftige Bildungspolitik ist so ziemlich das einzige Projekt, für das Union und SPD lagerübergreifend Lob bekommen. Im Schatten der großen Milliardenvorhaben finden sich im Koalitionsvertrag Dinge wie ein Nationaler Bildungsrat, der "Vorschläge für mehr Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit im Bildungswesen" machen soll - im Bildungsföderalismus eine kleine Revolution und wohl sehr im Sinne aller Eltern, die schon mal in ein anderes Bundesland umgezogen sind.

Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ist ebenfalls ein großer Schritt. Allerdings einer, der erst 2025 greift. Immerhin: Konkrete "Umsetzungsschritte" sollen vereinbart werden und zwei Milliarden Euro Bundesgeld fließen. Der fünf Milliarden Euro schwere Digitalpakt, der aus dem Jahr 2016 stammt, bislang aber nicht vom Fleck kam, soll zudem "eine digitale Lernumgebung" in allen Schulfächern möglich machen. Das wäre das Ende der "Kreidezeit" in den Klassenzimmern.

Damit Auszubildende und Lehrstellen besser zueinanderfinden, sind "verbesserte Mobilitätshilfen" geplant. Die Weiterbildung zum Techniker, Meister und Fachwirte soll gebührenfrei werden. Überhaupt soll es finanziell attraktiver werden, sich weiterzubilden: Entsprechende Zuschüsse des Arbeitgebers sollen nicht als Lohn oder geldwerter Vorteil gelten und müssen dementsprechend nicht versteuert werden. Auch die Allgemeinbildung taucht im Koalitionsvertrag auf: in Form von Volkshochschulangeboten rund um das Thema Digitalisierung. Auf den Wandel der Arbeitswelt wollen die Koalitionäre unter anderem mit rechtlichen Regelungen für das Arbeiten von unterwegs aus reagieren. Sagt ein Arbeitgeber Nein zum mobilen Arbeiten, muss er das demnächst begründen.

Forschung

Die deutsche Wirtschaft hat lange für eine steuerliche Forschungsförderung getrommelt. Nun kommt eine Light-Version: eine steuerliche Förderung für forschende kleine und mittlere Unternehmen, "die bei den Personal- und Auftragskosten für Forschung und Entwicklung" ansetzt. Übersetzt heißt das: Konzerne gehen leer aus.

Viele Zukunftsbranchen werden erwähnt auf den 179 Seiten des Koalitionsvertrags, von Quantentechnologie über Mikroelektronik bis Robotik. Sogar das All hat die Koalition im Blick: Ein "Weltraumgesetz" soll privaten Raumfahrtfirmen Investitions- und Rechtssicherheit bieten.

Wettbewerb

Um den Ansprüchen der Digitalwirtschaft gerecht zu werden, soll das Kartellrecht modernisiert werden. Ziel sind "starke deutsche und europäische Akteure der Plattformökonomie". Auf der anderen Seite sollen die Wettbewerbsbehörden aber "den Missbrauch von Marktmacht" auf diesen sich rasant verändernden Märkten besser abstellen können.

Gesundheit

Die nächste große Koalition hat sich den Kampf gegen Volkskrankheiten vorgenommen: Rückenschmerz und Übergewicht, Depression, Diabetes, Krebs oder Demenz. Sowohl die Forschungs- als auch die Gesundheitspolitik soll Strategien und Programme entwickeln.

Während es anderswo im Koalitionsvertrag heißt, der Mittelstand solle "auf breiter Front die Chancen der Digitalisierung ergreifen" können, gilt das nicht für den Versandhandel mit Medikamenten. Den nämlich wollen Union und SPD verbieten. Das freut die Apotheker, die auf diese Weise unverzichtbar werden. Ob es auch den Bürgern hilft, darüber lässt sich streiten.

Zombiegleich taucht die elektronische Gesundheitskarte wieder auf: Man werde "eine elektronische Patientenakte für alle Versicherten in dieser Legislaturperiode einführen", heißt es im Koalitionsvertrag. Es bleibt also spannend. Immerhin sind inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen, mehr als eine Milliarde Euro wurde investiert - doch noch gibt es für die Chipkarte, die in Zukunft einmal eine digitale Krankenakte speichern soll, keine sicheren Lesegeräte in allen Arztpraxen.

Union und SPD wollen Bürger auch davor bewahren, dass das Internet sie auf falsche Fährten lockt. So soll unter anderem ein "Nationales Gesundheitsportal" entstehen, das denjenigen, die ihr Halskratzen googeln oder nach Ärzten suchen, verlässliche Informationen bietet.

Tiere & Ernährung

Union und SPD wollen Tierquälern und radikalen Tierschützern gleichermaßen an den Kragen. Ein staatliches Tierwohllabel soll Fleisch aus besserer Tierhaltung kennzeichnen, den Versandhandel von Haustieren will die Koalition verbieten - gleichzeitig sollen "Einbrüche in Tierställe" als Straftatbestand effektiv geahndet werden.

Ansonsten soll die "Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten" vorankommen, vegetarische und vegane Lebensmittel einheitlich gekennzeichnet werden und das Schulessen nicht nur aus Pommes und Currywurst bestehen dürfen: Mit Hilfe des Bundes sollen die Länder dafür sorgen, dass alle Schulen und Kitas Ernährungsstandards einhalten. Damit die Bürger weniger Lebensmittel wegwerfen, haben sich SPD und Union zudem vorgenommen, das Mindesthaltbarkeitsdatum zu überprüfen. Außerdem wollen sie die Einführung "intelligenter Verpackungen" fördern - also etwa Tüten mit Frische-Indikatoren, die sich verfärben, wenn vergammelnde Lebensmittel Gase freisetzen. Apropos vergammelt: Die Parteien planen außerdem ein "nationales Vergiftungsregister".

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Quelle:
SZ vom 09.02.2018
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