Süddeutsche Zeitung

Kneipensterben:Das Feierabendbier ist gut für die Wirtschaft

Die Corona-Krise bedroht viele Wirte. Dabei sind Kneipen wichtig für die Gesellschaft, sagen Ökonomen: Wirtshäuser stärken den Zusammenhalt - und die Arbeitsproduktivität.

Von Benedikt Müller-Arnold, Düsseldorf

Der Kneipe "anne Ecke", wie man im Ruhrpott so schön sagt, geht es schlecht. Von gut 33 000 Schankwirtschaften, die Statistiker 2012 in Deutschland zählten, sind zuletzt weniger als 30 000 übrig geblieben. Die Corona-Krise dürfte das Kneipensterben noch beschleunigen: Wochen, vielerorts Monate ohne Umsätze haben die Reserven vieler Wirte aufgezehrt.

Anlass genug für den renommierten Wirtschaftsprofessor Justus Haucap, eine Lanze für die Kneipen zu brechen - keineswegs nur aus persönlichem Bedauern, sondern mit ökonomischen Argumenten. Das Kneipensterben sei eben nicht nur traurig für betroffene Wirte und ihr Personal, referierte Haucap nun beim Festival Pint of Science, zu Deutsch etwa: eine halbe Maß Wissenschaft. "Es könnte auch für den sozialen Zusammenhalt schlecht sein."

Haucap verweist etwa auf den US-Ökonomen Albert Hirschman. Der stellte heraus, dass eine Tischgemeinschaft kein klassisches privates Gut ist, wie es Wirtschaftswissenschaftler etwa für jede Semmel annehmen: Einer kauft sie, damit ist dieses Exemplar für andere nicht mehr erhältlich. Stattdessen habe der Gang ins Lokal Elemente eines Kollektivgutes. "Die Leute gehen nicht in die Kneipe, weil sie so durstig sind", beschreibt es Haucap. Vielmehr gehe es um den Austausch. "In den Kneipen entsteht so etwas wie Sozialkapital."

Damit meinen Ökonomen etwa das Vertrauen, das in Dorfkrügen entsteht, oder den mitunter nützlichen Plausch: Beim Schmidt drüben wird ne Wohnung frei, zum Beispiel. Haucap verweist auf eine britische Studie von 2012. Demnach würde es zwischen 20 000 und 120 000 Pfund kosten, wenn man Einrichtungen neu schaffen wollte, die denselben gesellschaftlichen Nutzen stiften wie das Pub vor Ort.

Beim Feierabendbier besteht die Wahrscheinlichkeit, sich zu verplappern

Auch in Firmen ist Sozialkapital wichtig. "Wenn man sich vertraut, steigt die Arbeitsproduktivität", so Haucap, "weil man sich nicht ständig kontrollieren muss." Freilich gibt es viele Wege, Vertrauen aufzubauen; ein gemeinsamer Rausch ist sicher nicht der gesündeste. Doch nicht umsonst sei es in einigen Berufen verbreitet, nach so manchem Feierabend gemeinsam Alkohol zu konsumieren. "Wenn du mit anderen Menschen einen trinken gehst, dann besteht zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass du dich verplappern könntest", sagt Haucap. Wer etwas zu verbergen habe, überlege sich das im Vorfeld. Somit könnte ein moderater, gemeinsamer Rausch der Vertrauensbildung dienen. Geht abends jedoch zu viel über die Theke, droht die Produktivität akut zu leiden.

Trotz alldem setzen - neben der Corona-Pandemie - mehrere Entwicklungen den Kneipen zu: Ihr Betrieb ist teurer geworden, Mieten sind vielerorts gestiegen. Im Vergleich zum Tresen mag die Pulle in Supermarkt und Kiosk günstiger sein. Weniger Menschen engagieren sich in Vereinen, die sich klassischerweise in Kneipen treffen. Und so mancher Stammtisch hat sich samt Parolen in soziale Netzwerke verlagert. Im Lokal könne der Wirt immerhin eingreifen, wenn's ihm zu bunt wird, lobt Haucap. "Das ist in den sozialen Medien zumindest momentan noch nicht so ausgeprägt."

Was also tun, wenn ein Dorf oder Stadtviertel die Institution Kneipe erhalten will, aber sich der Betrieb für keinen Wirt mehr rechnet? Haucap verweist auf Genossenschaftsmodelle, die etwa auf dem Land entstehen. Als Vorbild gelten Community Pubs in Großbritannien, die einheimischen Mitgliedern gehören - typischerweise etwa 200 pro Lokal, wie die Plunkett Foundation berichtet. Die genossenschaftliche Einrichtung zählt mittlerweile 116 "community owned" Pubs im Königreich. Die Zahl stieg, zumindest bis zur Corona-Krise, an.

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SZ vom 10.09.2020
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