Im antiken Griechenland stand Kairos, dargestellt als göttlicher Jüngling mit Flügeln an Schultern und Füßen, für die Kunst des richtigen Timings. In der Bibel bezeichnet das Wort eine besondere Chance zu einem von Gott gegebenen Zeitpunkt. Der mythologische Stoff lieferte einigen der größten Steuertrickser der deutschen Geschichte die Symbolik, als sie im Frühjahr 2010 einen besonderen Fonds auflegten. Sie nannten ihn Caerus II Equity Fund, nach der englischen Entsprechung für Kairos. Er stand nur ausgewählten Investoren offen. Das Geschäftsmodell: Schwer durchschaubare Aktiengeschäfte rund um den Dividendenzahltag, um Gewinne zu machen mit mehrfachen Steuergutschriften deutscher Finanzämter. Gewinne per Griff in die Staatskasse.
Es ist ein Fall, der stellvertretend für eine ganze Branche steht
Der Fonds war nur einer von vielen, für die sich seit Jahren Staatsanwälte und Steuerfahnder in ganz Deutschland interessieren: In mehr als 400 Verdachtsfällen ermitteln sie gegen Banker, Aktienhändler und deren Berater, die systematisch Steuern in Milliardenhöhe hinterzogen und teilweise Geld gewaschen haben sollen. Aber gerade die Geschichte dieses einen Fonds, der nur ein gutes halbes Jahr existierte, erlaubt einen tiefen Einblick in die fragwürdigen Geschäfte der Protagonisten des Cum-Ex-Steuerskandals. Und sie erlaubt erstmalig einen Blick auf die Rolle der Wirtschaftsprüfer dabei, auf diejenigen, die im Auftrag der Öffentlichkeit die Bilanzen von Unternehmen überwachen sollen.
Es geht um die Rolle der größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt, um die vier Firmen KPMG, PwC, Deloitte und EY. Sie dominieren den Markt, vereinen Steuer- und Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung unter einer Dachmarke. Wird es kompliziert, wie meistens in der Finanzindustrie, geht nichts mehr ohne sie. Auch die meisten jener Banken, die bis 2012 im großen Stil Geschäfte zulasten des Fiskus betrieben haben sollen, ließen ihre Bücher von den großen vier prüfen. Haben die Prüfer die Risiken damals schon entdeckt? Hätten sie teilweise sogar darauf bestehen müssen, berechtigte Zweifel an den Cum-Ex-Geschäften in Geschäftsberichten zu thematisieren?
Die Steuerberater von KPMG hätten das in den Jahren 2009 und 2010 wohl noch bejaht. Interne Dokumente und E-Mails, die WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung vorliegen, zeigen: Sowohl die Steuerfachleute als auch die Wirtschaftsprüfer von KPMG wussten damals genau Bescheid, wie die Geschäfte des Fonds abliefen und wie hoch das Risiko war, dass die Finanzbehörden später einmal Geld zurückfordern. Es ist ein Fall, der stellvertretend für eine ganze Branche zeigt, wie sich die Wirtschaftsprüfer mitunter zu Erfüllungsgehilfen der Firmen machen, die sie eigentlich durchleuchten sollen. Die Grenze zwischen Dienstleistung für den Kunden und Dienst an der Öffentlichkeit scheint fließend zu sein.
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Die Einschätzung der Steuerberater von KPMG war dagegen zunächst eindeutig. Im Dezember 2009 traf sich einer von ihnen in Hamburg mit Yasin Sebastian Qureshi, dem Gründer und Chef der kleinen Varengold-Bank, und zwei weiteren aus deren Führungsriege. Die drei hatten den Caerus-Fonds bei einer Tochtergesellschaft aufgelegt. Die Rendite: Steuergutschriften aus dem Handel von deutschen Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividende.
Bei diesen Strategien bestehe das Risiko, dass Kapitalertragsteuern unrechtmäßig erstattet würden, hieß es schon damals. Gute zwei Wochen nach dem Treffen schickten die KPMG-Experten eine erste Einschätzung, 27 Seiten lang, Tenor: Die Geschäfte des Fonds seien womöglich illegal. Indizien dafür seien etwaige verdeckte Absprachen der Aktienhändler, der außerbörsliche Handel oder fragliche Leerverkäufe.
Lange vor den Strafverfolgern hatten sie damit also die Tricks der Cum-Ex-Akteure enttarnt. Varengold beendete den Vertrag mit KPMG später, denn offenbar passte den Hamburgern die Meinung der Steuerberater nicht. Dennoch: Am Tag, als deren fertiges Gutachten bei Varengold eintraf, wurde der Fonds geschlossen, und die Steuereinnahmen wurden an die Investoren ausgeschüttet, übrigens auch an den Drogerieunternehmer Erwin Müller, der 50 Millionen Euro investiert hatte.
Zur gleichen Zeit schauten sich die Wirtschaftsprüfer von KPMG die Bilanzen der Varengold-Tochterfirma an. Sie wussten um die Meinung ihrer Kollegen aus der Steuerabteilung in Frankfurt. Aktien im Wert von elf Milliarden Euro habe der Fonds gehandelt, so geht es aus den Dokumenten hervor, und 350 Millionen Euro an Steuern eingenommen. Die Prüfer hatten erhebliche Bedenken, den Jahresabschluss zu unterzeichnen. Sie fürchteten gar um den guten Ruf von KPMG, sollte der Vorgang doch irgendwann öffentlich werden.
So zögerten sie monatelang, fragten nach bei KPMG-Anwälten in Leipzig und den Steuerfachleuten. Sie bestanden zunächst auf einem Risikohinweis im Jahresabschluss.
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Sinngemäß wollten sie formulieren, der Varengold-Tochter drohe die Überschuldung, falls die Finanzbehörden fragliche Steuergutschriften zurückforderten. Dagegen sperrten sich die Verantwortlichen bei Varengold, untermauert mit einem Gutachten aus der Frankfurter Kanzlei von Hanno Berger, eines Cum-Ex-Spezialisten, der heute in mehreren Verfahren als Beschuldigter geführt wird. Am Ende bekam die Bank das Testat - und tatsächlich: Im öffentlichen Jahresbericht findet sich kein Hinweis auf steuerliche Risiken.
KPMG wollte sich im Detail nicht zum damaligen Engagement äußern. Man habe seinerzeit den Jahresabschluss der Varengold Investmentaktiengesellschaft "einmalig geprüft", hieß es nur.
Gegen Qureshi und die anderen damaligen Varengold-Chefs ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft Köln wegen Steuerhinterziehung in besonders schwerem Fall. Die heutige Geschäftsführung der Bank will zu den Vorwürfen nichts sagen. In einem Wertpapierprospekt schrieb die Varengold-Bank im vergangenen November, es könnten noch Forderungen in zweistelliger Millionenhöhe auf sie zukommen und eine Verbandsbuße von bis zu zehn Millionen Euro. Je nach Höhe der Forderungen sei die Existenz der Bank damit gefährdet.