Nachhaltigkeit:2020, Jahr der verschobenen Ziele

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20 Prozent ökologischer Landbau, eine Million Elektroautos, Kita-Plätze für alle und ein steigender Anteil erneuerbarer Energien. (Foto: S. Kahnert/dpa, A. Dedert/dpa, A. Schellnegger, C. Charisius/dpa)

Als es noch lange hin war bis 2020, setzten sich Bundesregierungen die schönsten Ziele: weniger CO₂-Emissionen, eine Million Elektroautos, eine nachhaltigere Republik. Doch die meisten werden wohl verfehlt.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Das Jahr 2020 war noch weit weg, als Deutschland zum ersten Mal eine Nachhaltigkeitsstrategie bekam. Ein "Futur Prozess" sollte beginnen, "um über künftige Lebenswelten für das Jahr 2020 zu diskutieren". Es gab in dem ersten Aufschlag zu der Strategie Dutzende Ideen, um Weichen in Richtung Nachhaltigkeit zu stellen. 2002 regierte Rot-grün, und 18 Jahre schienen damals wie genug Zeit, um die Dinge im Land zum Besseren zu wenden.

So wurde das jetzige neue Jahr zum großen Zieljahr in Sachen Nachhaltigkeit, es gab Indikatoren über Indikatoren: 60 Prozent Ganztagsbetreuung. Zehn Prozent Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen. 20 Prozent weniger Primärenergieverbrauch als 2008. Die Flächenversiegelung sollte eingedämmt werden, der Anteil erneuerbarer Energien steigen.

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18 Jahre später ist nun die Zeit der Abrechnung gekommen. Doch an die wenigsten Ziele von einst wird der Bund in diesem Jahr einen Haken setzen können, die meisten werden wohl verfehlt. Jedenfalls dann, wenn sie nicht vorher schon kleinlaut verschoben, gesenkt oder gleich ganz kassiert worden. Ruhmesblätter gibt es wenige.

"Jede Generation muss ihre Aufgaben lösen und darf sie nicht den kommenden Generationen aufbürden", hieß es schon in der ersten Nachhaltigkeitsstrategie 2002. Das bekannteste Beispiel dafür ist mittlerweile das Klimaziel: 40 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 - bis 2020. Definiert wurde es schon zu Beginn der neunziger Jahre von einer Enquete-Kommission, doch in die Nachhaltigkeitsstrategie fand es zunächst keinen Eingang. Zu dem Zeitpunkt galt noch das vorherige Klimaziel, ein Minus um 25 Prozent bis 2005. Natürlich wurde es nicht erreicht. 2009 schrieben Union und FDP das neue, weitaus höhere Ziel für 2020 im Koalitionsvertrag fest: minus 40 Prozent. Geholfen hat es dennoch nicht: Schon jetzt ist absehbar, dass dieses Ziel nicht erreicht wird.

Stattdessen gilt nun ein neues Ziel, 55 Prozent weniger bis 2030. Ein beliebter Reflex sei das, sagt der Soziologe Ortwin Renn, der das Potsdamer Nachhaltigkeits-Institut IASS leitet. "Das soll den Eindruck erwecken: Sie haben es verstanden, jetzt wollen sie wirklich etwas tun. Aber dieser Reflex führt ins endlose Vakuum."

Nicht überall ist die Bilanz schlecht. Der Anteil der vorzeitigen Schulabgänger etwa, um die Jahrtausendwende bei knapp 15 Prozent, sollte bis 2020 auf weniger als zehn Prozent sinken. Das dürfte gelingen, ebenso die Senkung der Raucherquote, ein steigender Anteil Erwerbstätiger und auch jener von Frauen in Aufsichtsräten. Der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch liegt schon seit 2018 über dem Zielwert von 35 Prozent. In den Berichten zum Stand der Dinge finden sich bei solchen Erfolgsmeldungen kleine Sonnen.

Aus 2010 wird "in den nächsten Jahren" und aus den "nächsten Jahren" still und heimlich 2030

Bei anderen Zielen hatten Bundesregierungen schon vorher reagiert. Ursprünglich etwa sollte schon bis 2010 der Anteil des ökologischen Anbaus 20 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche ausmachen. Doch das Ziel wollte und wollte nicht näherrücken. So wurde aus 2010 "in den nächsten Jahren" und aus den "nächsten Jahren" dann still und heimlich 2030. Erreicht waren zuletzt nur gute sieben Prozent. Da ist noch Luft nach oben.

Ähnlich lief es bei der Versiegelung von Flächen. "Zu wenig machen wir uns bewusst, dass auch unbebaute Landschaft eine begrenzte Ressource ist", hieß es noch in der ersten Nachhaltigkeits-Strategie 2002. Zu dem Zeitpunkt wurden im Schnitt 130 Hektar pro Tag versiegelt, das Ziel wurde eine drastische Senkung auf 30 Hektar. Zu erreichen, klar, im Jahr 2020. Das erwies sich als ehrgeizig, im Jahr 2016 lag der Durchschnitt immer noch bei über 60 Hektar am Tag. Also verschob die Bundesregierung auch dieses Ziel auf 2030. Dafür soll der Flächenverbrauch bis dahin "unter" 30 Hektar am Tag liegen. Das gibt noch einmal zehn Jahre Aufschub.

Über ein anderes Ziel, das aber nie in der Nachhaltigkeitsstrategie stand, hüllte die Regierung kurzerhand den Mantel des Schweigens. Ursprünglich sollten bis 2020 eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen unterwegs sein. Das Land sollte so "Leitmarkt" für Elektromobilität werden. Als das Ziel außer Reichweite geriet, sprach niemand mehr davon. Im neuesten Klimaschutzprogramm ist nun von einer Million Ladepunkten die Rede - bis 2030.

Derlei Manöver sind für die Politik gefährlich, warnt Forscher Renn. "Ziele haben für die Politik eine Entlastungsfunktion: Man hat etwas vorzuweisen, ohne wirklich etwas gemacht zu haben." Doch die Probleme bekämen dann Folgeregierungen wieder auf den Tisch. "Die Politikverdrossenheit ist auch eine Quittung für Ziele, die nicht mit Politik unterfüttert werden."

Andererseits schärfen die Ziele das Bewusstsein für das, was noch im Argen liegt. Nach Zählung der Bundesregierung liegt sie bei 24 von 66 Indikatoren so gut wie im Plan. In 28 anderen Bereichen, sei es bei der Ganztagsbetreuung von Kindern, beim Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau oder der Energieeffizienz sind die Ziele näher gerückt. Bei anderen gab es Rückschritte, etwa beim Nitrat im Grundwasser. Wie Kanzlerin Angela Merkel gern sagt: "Es bleibt also viel zu tun."

© SZ vom 03.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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