SAP plant es bis 2025, Siemens bis 2030, RWE will bis 2040 so weit sein: Immer mehr Firmen wollen in näherer oder ferner Zukunft treibhausgasneutral wirtschaften. Die Zahl solcher Ankündigungen habe sich alleine 2020 verdoppelt, melden das Weltwirtschaftsforum (WEF) und das Beratungsunternehmen Boston Consulting Group (BCG). Es geht also voran in Sachen Klimaschutz.
Doch viele dieser Ziele haben einen Haken: Sie beschränken sich auf den Ausstoß der Unternehmen selbst. Die meisten rechnen noch die CO₂-Bilanz der Energie dazu, die sie beziehen. Außen vor bleiben dagegen Emissionen, die beim Abbau von Rohstoffen, bei Zulieferern oder beim Transport anfallen. Deren Anteil kann aber beträchtlich sein. Nestlé etwa hat nur etwa fünf Prozent des CO₂-Fußabdrucks aller Produkte in der eigenen Hand. Daher arbeitet der Nahrungsmittelkonzern nach eigenem Bekunden mit Abertausenden Lieferanten und Landwirten zusammen an einer klimaschonenden Lieferkette.
Man kann das also auch als Chance begreifen: Firmen könnten "einen riesigen Einfluss im Kampf gegen den Klimawandel nehmen", sagt WEF-Geschäftsführer Dominic Waughray, wenn ihre Lieferketten CO₂-neutral würden. Oft diene das dem Klimaschutz mehr, als wenn Unternehmen nur ihren eigenen Ausstoß senken. Doch wie geht das konkret? Und wird dann alles teurer?
Mehr Ökostrom und Recycling können etwa in der Modeindustrie schon vieles bewirken
BCG und WEF rechnen dies in einer Studie, die diesen Donnerstag erscheint, anhand von acht großen Branchen durch. Diese stehen zusammengerechnet - also inklusive Rohstoffe, Transport, Verarbeitung - für gut die Hälfte aller CO₂-Emissionen weltweit. An der Spitze: Nahrungsmittel, die allein ein Viertel des Ausstoßes verursachen, gefolgt vom Bau und der Textilindustrie.
Die acht Branchen könnten 40 Prozent ihrer Lieferketten-Emissionen mit Mitteln verhindern, die längst verfügbar sind und weniger als zehn Euro je eingesparter Tonne Treibhausgas kosten. Das ist günstig, denn CO₂-Ausstoßrechte sind hierzulande teurer. Und selbst mit komplett klimaneutralen Lieferketten müssten Konsumgüter nur um ein bis vier Prozent teurer werden, schätzen die Autoren. Beispielsweise müsste eine CO₂-neutrale Hose nur etwa einen Euro mehr kosten als bislang.
Die Studie basiert auf Angaben, die gut 300 Firmen weltweit bei der Organisation Carbon Disclosure Project gemacht haben, sowie einer Datenbank der Columbia Universität zur CO₂-Bilanz verschiedener Produkte. Zudem haben die Autoren einige Dutzend Unternehmen und Experten befragt.
Zu den günstigen Mitteln zählen etwa: mehr recycelte Materialien, statt beispielsweise immer neues Plastik herzustellen. Oder effizientere Prozesse, die weniger Energie benötigen. Und Firmen könnten mehr Ökostrom erzeugen oder einkaufen. Diese erneuerbare Energie wird weltweit immer günstiger, weil sich die Technik entwickelt. Alleine mit diesen Hebeln könnte beispielsweise die Textilindustrie 70 Prozent ihrer CO₂-Emissionen verhindern, schätzen die Autoren. Denn die Branche unterhält viele Fabriken in asiatischen Staaten, die bislang vor allem Kohle verstromen.
Stahl, Zement, Schiffsmotoren: Verbrennungsprozesse umzustellen, wird viel schwieriger
Doch es bleiben Schwierigkeiten, etwa in Prozessen, die viel Hitze brauchen. Stahlhersteller beispielsweise können ihre Öfen nicht nur mit Biogas oder Solar-Strom befeuern. Neue Technologien, die auf Wasserstoff statt Kohle setzen, sind sehr teuer. Allerdings verdienen gerade Industrien wie Stahl oder Zement wenig Geld im Vergleich zu ihren vielen Emissionen. Immerhin: Wenn Wasserstoff-Technologien im Laufe der Jahre günstiger werden, müsste etwa ein Auto mit "grünem" Stahl nur um zwei Prozent teurer werden, schätzen die Autoren.
Freilich verlangen CO₂-neutrale Lieferketten noch mehr, zum Beispiel elektrische Antriebe oder klimaneutrale Kraftstoffe für Lkws, Schiffe und Flugzeuge. Wo Emissionen unvermeidbar sind, müssten Firmen sie einfangen, lagern oder wiederverwerten. Oder sie setzen auf die Kräfte der Natur: Wälder schützen und aufforsten. Allzu oft ist noch das Gegenteil der Fall.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Firmen weltweit viele Zulieferer haben - und sie immer mal wieder wechseln. Das erschwert die Beschaffung der nötigen Daten; oft lassen sich Emissionen entlang der Lieferkette nur anhand von Mittelwerten schätzen.
CO₂-neutrale Produkte seien eine "Riesenchance", vor allem in Europa, glauben die BCG-Berater
Konzerne sollten daher mit ihren Lieferanten gemeinsam Ziele zur CO₂-Reduktion vereinbaren, folgert die Studie - und offenlegen, wie sie vorankommen. Denn auf die Klimabilanz von Lieferketten dürfte in den nächsten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit fallen, sagt Jens Burchardt, einer der Autoren. "Vor diesem Hintergrund glaube ich nicht, dass Unternehmen Herausforderungen in dem Bereich dauerhaft verbergen können", so der BCG-Partner.
Zudem sollten Hersteller ihre Produkte so designen, dass man diese erneut befüllen, gut recyceln oder reparieren kann. Und Einkäufer bräuchten klare Anreize, die CO₂-Bilanz in der Beschaffung zu verbessern. Einer von vielen Hebeln sei dabei, mehr Vorprodukte aus der Nähe zu beziehen, statt sie um den Globus zu schippern. "Dennoch ist eine Welt ohne international vernetzte Lieferketten sicher nicht mehr realistisch", relativiert Burchardt. "Es hat ja handfeste, ökonomische Gründe, warum sich beispielsweise die Textilindustrie vor allem nach Asien verlagert hat."
Darüber hinaus sollten Firmen in Verbänden oder Initiativen zusammenarbeiten, auch um Positivbeispiele zu sammeln. Sie könnten gemeinsame Forschungszentren aufbauen, um "grüne" Technologien zu entwickeln - oder auch geschlossen Signale senden, dass sie klimaschonende Vorprodukte kaufen werden.
"Wir glauben, dass Hersteller vor allem auf dem europäischen Markt viel damit gewinnen können, komplett CO₂-neutral hergestellte Produkte anzubieten", sagt BCG-Mann Burchardt, egal ob Mode, Technologie, Autos oder Haushaltsgeräte. "Das löst noch nicht unser globales Klimaproblem, ist aber trotzdem eine Riesenchance."