Wirtschaft im Herbst 2021:"So etwas habe ich noch nie erlebt"

Lesezeit: 7 min

Illustration: Mark Airs; Foto: Imago images/Ikon Image (Foto: N/A)

Klimawandel, Energiewende, die Frage nach dem Morgen: Es war für die Wirtschaft alles schon mal einfacher. Experten erwarten "noch sehr schwere Ereignisse, auf die wir nicht vorbereitet sind".

Von Thomas Fromm

Die Welt der Wirtschaft ist voll von schlechten Nachrichten, aber der Reihe nach. Es gibt Unternehmen, die kaum noch etwas produzieren können, weil Halbleiter fehlen. Sie suchen auf den Märkten verzweifelt nach Chips, Aluminium und Kunststoff, und wenn sie etwas finden, dann wird es gleich ziemlich teuer. Oft so teuer, dass es kleinere Unternehmen aus der Bahn schleudert. Das einst von Toyota zur Religion erhobene und von Chef-Logistikern gepriesene Just-in-Time-Prinzip, bei dem alles kurz vor Schluss zum Produktionsort geliefert werden soll, kann man heute vergessen. Wer heute ein paar Container mit Halbleitern und anderen Spezialitäten findet, nimmt sie. Und hortet. Zum großen Mangel kommt die Energiewende hinzu. Es kostet die Wirtschaft Milliarden, alles umzubauen, und dazu drückt immer noch die Pandemie auf die Stimmung.

Wer jetzt meint, dass das die ganz großen Probleme sind, sollte sich mit Ernst Rauch unterhalten. Er hat wohl das Schwierigste von allen auf dem Tisch, und sein Job ist es nicht, die Dinge zu beschönigen. "Wir werden noch sehr schwere Ereignisse sehen, auf die wir als Gesellschaft und als Individuen nicht vorbereitet sind", sagt der oberste Klimaexperte des Rückversicherers Munich Re. "Und wir werden noch Schmerzhafteres erleben, bis wir wirklich alles umsetzen."

Schwere Ereignisse, Schmerzen, Katastrophen - wenn es darum geht, was die deutsche Wirtschaft in diesen Tagen beschäftigt, ist man ziemlich schnell bei der Alles-oder-nichts-Frage, also beim Thema Klimawandel, und damit ziemlich schnell bei Ernst Rauch. Einem freundlichen Geophysiker, der seit Jahrzehnten Wetterphänomene studiert und sieht, dass es gerade immer schlimmer wird. In der Wirtschaft mag es ja viele Sorgen geben, aber verglichen mit dem Klimawandel?

Allerdings, findet Rauch, ist zum Thema nun auch schon so gut wie alles gesagt. Die Naturwissenschaftler haben jahrelang geforscht und ihre beklemmenden Daten geliefert, haben über lange Zeiträume beobachtet, wie die Wetterextreme auf der ganzen Welt zunahmen, die Überschwemmungen, Dürren, die schweren Stürme, vom Hurrikan Katrina im August 2005 in New Orleans bis zum Hochwasser im Ahrtal im Juli 2021. Und Rauchs Arbeitgeber ist auch schon seit Jahrzehnten am Thema dran, viele Jahre lang als "einsamer Rufer in der Wüste", wie Rauch sagt. Trotzdem sagt ausgerechnet dieser frühe Warner und professionelle Wetteranalyst einen sehr bemerkenswerten Satz: "Noch mehr Mahnen und noch weitere Studien führen uns jetzt nicht weiter."

Ein sonniger Nachmittag Ende Oktober, das automatische Sonnenrollo in dem kleinen Besprechungszimmer am Englischen Garten in München summt und schnarrt, macht klack, klack, geht rauf, runter, wieder rauf. Draußen Klimawandel, drinnen Klimaanlage. Auf dem Tisch eine Thermoskanne Kaffee, kleine Päckchen Milch und Zucker, daneben liegen ein paar verpackte Snacks. Coronagerecht, sagt Rauch und setzt sich an den Konferenztisch. Er hat ein Fazit gezogen nach so vielen Jahren, und das geht so: Die besten und dramatischsten Vorhersagen nützen nichts, wenn die Menschen sie nicht ernst nehmen und sagen, dass das Wetter schon immer verrückt gespielt hat. Oder sie den Preis dafür nicht bezahlen wollen und lieber weitermachen wie bisher. Und deshalb seien nach den Naturwissenschaftlern nun die Sozialwissenschaftler am Zug, die "Gesellschaftsversteher", die das Thema "in die Gesellschaft hineintragen und um Unterstützung bei den Lösungen werben" können.

Kein Erkenntnisproblem mehr, sondern vor allem eine Frage der Umsetzung. Das bedeutet natürlich nicht, dass einer wie der Geophysiker Rauch jetzt einfach mal seine Arbeit einstellt. Hey, Soziologe, übernehmen Sie jetzt bitte den Klimawandel und die Zukunft der Erde, ich bin dann mal weg! So einfach geht das nicht, dafür steht hier zu viel auf dem Spiel.

Je höher das Risiko, desto höher der Preis: So läuft das ja bei Versicherungen

Wenn es ums Klima geht, geht es für einen Rückversicherer auch um Milliarden Euro und Dollar und um die Frage, wie sich in der Wirtschaft überhaupt noch irgendetwas planen lässt, wenn Waldbrände, Stürme und Überschwemmungen von Jahr zu Jahr zunehmen. Millionen-Investitionen in neue Standorte? Rauchs Team bewertet Risiken und ihre Wahrscheinlichkeiten. Wetterextreme werden in den nächsten Jahren weiter zunehmen, sagt er, und deswegen sei das Geschäft, Naturrisiken abzudecken, ein "wachsendes Feld". Die Frage sei nur, ob das am Ende auch alle bezahlen können. Denn so läuft das ja bei Versicherungen: Je höher das Risiko, desto höher der Preis.

Zumal wie gesagt der Klimawandel von allen Problemen vielleicht das größte ist. Aber nicht das einzige.

Stockdorf, eine halbe Stunde südlich von München. Hier, wo die Großstadt allmählich ins Dörfliche ausfranst, liegt die Zentrale des Autozulieferers Webasto. Das Unternehmen baut unter anderem Autodächer, und wie so viele Zulieferer hat Webasto gerade ein Problem: Die internationalen Lieferketten funktionieren nicht mehr richtig, und deshalb sind wichtige Materialien knapp geworden. "Die Lieferketten waren schon vor Covid sehr sensibel gestrickt und zeitlich auf Kante genäht", sagt Webasto-Chef Holger Engelmann. "Jetzt hat diese globale Lieferkette einen Riesenschlag bekommen, der jetzt durch die Welt mäandert. Kleine regionale Ausfälle werden auf der ganzen Welt spürbar." Wenn die einst so sorgfältig orchestrierte Globalisierung aus dem Takt gerät, dann landen die Schockwellen auch in Stockdorf.

Ein großer, heller Besprechungsraum, der Blick geht ins Grüne, und die Webasto-Chefeinkäuferin Yanni von Roy-Jiang erzählt, wie sie schon im Januar eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, die täglich kontrollierte, wo gerade Materialien fehlen. "So etwas habe ich noch nie erlebt, und schon gar nicht, dass so etwas so lange andauert", sagt sie. Ziemlich wahrscheinlich, dass ihre Arbeitsgruppe auch im nächsten Jahr viel zu tun haben werde. Was so viel heißt wie: kein Ende in Sicht.

Probleme mit dem Chipmangel haben gerade alle. Die Waschmaschinenhersteller, die Spielzeugbauer, und auch die Autohersteller, die seit Monaten immer wieder mal ihre Bänder stoppen müssen, weil nichts mehr geht. Aber sie kommen über die Runden, denn es ist am Ende alles eine Frage der Marge. Die Nachfrage ist da, die Lieferzeiten sind lang, Rabatte gibt es kaum, und wer ein paar Chips hat, stattet damit lieber seine teureren Limousinen aus. Anything goes. Bei kleineren Zulieferern am Ende der Nahrungskette liegen die Dinge allerdings anders: Wenn hier Halbleiter fehlen oder Industriemetalle wie Kupfer, Zink oder Aluminium, kann das für die Kleinsten der Branche schnell existenziell werden. Mit einem Umsatz von 3,3 Milliarden Euro und mehr als 14 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehört das Familienunternehmen Webasto eher zu den Größeren der Branche. Um durch die Krise zu kommen und die Produktion irgendwie aufrechtzuerhalten, sitzt von Roy-Jiang regelmäßig mit ihren Leuten zusammen. "Das Thema Lieferketten treibt mich jeden Tag um", sagt sie. "Stahl, Aluminium, Kunststoff - es ist ja aktuell kaum noch etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt und früheren Konditionen verfügbar." Preiserhöhungen von 55 Prozent bei Aluminium oder 100 Prozent bei Stahl? In diesen Wochen ganz normal. Wenn viele anfangs noch dachten, dass es schnell wieder aufhören würde, dann hatten sie sich auf jeden Fall geirrt.

"Wir stellen gerade in diesen Tagen fest, wie komplex und brüchig die alte Ordnung geworden ist", sagt Christian Bruch. Als der 51-jährige im Mai 2020 Chef des vom Siemens-Konzern abgespaltenen Energiegeschäfts Siemens Energy wurde, waren alle im Home-Office. Es war vielleicht nicht die ideale Zeit, als Chef bei einem Unternehmen mit rund 90 000 Leuten anzuheuern, und es dauerte nicht lange, da stellte der Manager fest: Es sind nicht nur die menschlichen Kontakte, die fehlen. Manchmal fehlen für ein Projekt auch ein paar Tausend Tonnen Stahl, die nicht rechtzeitig kommen. Dabei hat Bruch noch genug andere Probleme. Er hat eine Sparte übernommen, die vor ihrer Abspaltung für 40 Prozent des Siemens-Gesamtumsatzes stand. Eine kriselnde Kraftwerkssparte, das fossile Öl- und Gasgeschäft, Gasturbinen, Jobabbau, aber eben auch Windanlagen, Elektrolyseure und Wasserstoff. Bruch muss bei Siemens Energy gerade das hinlegen, was gerade auch im großen Ganzen ansteht: Kohleausstieg, den Abbau von Treibhausgasen, die Energiewende.

Manchmal fragen den Chef die Mitarbeiter, ob sie in fünf Jahren an ihrem Standort noch einen Job haben

Kurz vor der Weltklimakonferenz in Glasgow sitzt Bruch in einem Büro im Münchner Stadtteil Neuperlach-Süd und sagt, dass er eigentlich eher skeptisch sei. Glasgow zeige, "dass das Zusammenspiel der Staaten bei komplexen Fragestellungen nicht mehr reibungslos funktioniert". Nun sei die Industrie am Zug, um den Wandel zu beschleunigen. "Man sollte nicht unterschätzen, dass auch Unternehmen viel machen und einiges ausrichten können." Erneuerbare Energien drastisch ausbauen, den Kohleausstieg pünktlich über die Bühne bringen - derjenige, der das fordert, ist Chef eines Energiekonzerns, der seine Wurzeln in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts hat. Das ist ja gerade das Bemerkenswerte. Und das alles hat natürlich seinen Preis. Für Siemens Energy. Und für die Gesellschaft.

Manchmal fragen ihn Mitarbeiter, ob sie in fünf Jahren an ihrem Standort noch einen Job haben. Streng genommen ist es gerade so, dass der Chef nicht viel garantieren kann. "Wir haben unseren Mitarbeitern in den letzten 15 Monaten viel abverlangt", sagt Bruch. "Viele Veränderungen, kein Stillstand - das ist unheimlich anstrengend." Den Menschen müsse man jetzt viel erklären, und gerade beim Erklären könne man noch besser werden.

Aber da ist auch die Welt da draußen, da sind die unbequemen Seiten des großen Umbaus. Nachhaltigkeit sei nicht umsonst, und höhere Preise bedeuten schnell mal sozialen Sprengstoff. "Wir müssen darüber diskutieren, wie wir diese Umverteilung organisieren können, ohne Menschen abzuhängen", so der Manager. Für einen wie ihn, der Millionen verdient - kein Problem. "Ich habe ein gutes Gehalt und kann mir höhere Stromkosten leisten. Das gilt aber längst nicht für jeden." Insofern sind Bruch und Siemens Energy so etwas wie die Welt im Kleinen: Es kommen große Diskussionen auf alle zu.

Womit man wieder am Anfang wäre, bei Ernst Rauch, dem Wissenschaftler von der Munich Re, der weiß, dass man jetzt viel reden muss, mit allen. Und er sagt noch etwas sehr Besonderes, zumindest für einen Dax-Manager: "Die jungen Leute von 'Fridays for Future' sind in ihrer Kommunikation einfach effizienter und öffentlichkeitswirksamer, als es die Menschen aus Wissenschaft und Wirtschaft früher waren." Angst vor der Zukunft habe er zwar nicht, es sei ja noch nicht zu spät. Nur nachdenklicher sei er geworden in den vergangenen Jahren. Dann überlegt er kurz und sagt: "Mehr Fahrrad fahren und weniger Auto allein wird nicht reichen."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: