Die grünen Akten werden nicht weniger. Seit Januar sind etwa 3000 Fälle liegengeblieben. "Wir wollen keine Akten weghauen, uns geht es um Rechtsfrieden", sagt Kanert.
Der Richter bezieht sich damit auf eine Zahl aus diesem Jahr: 83 Prozent der Hartz-IV-Verfahren am Berliner Sozialgericht wurden ohne gerichtliches Urteil beigelegt. Die Parteien einigten sich durch Überzeugungsarbeit eines Richters.
Ruhe bewahren
Richterin Willkomm bewahrt Ruhe, auch wenn die Emotionen in diesem Raum oft hochkochen. "Überlegen Sie doch mal", sagt sie oder beginnt ihre Sätze mit "Sie wissen ja eigentlich", um den Diskussionen die Schärfe zu nehmen.
Es geht den einen darum, das knappe Geld gerecht zu verteilen, und den anderen ums Überleben. Der Richterin sitzt eine junge Frau gegenüber, in beigem Rollkragenpullover mit kurzem, dunklem Haar.
Ihr Verteidiger ist in diesem Moment angekommen, hat die Motorradkleidung abgelegt und sein Robe übergezogen. Willkomm trägt den Fall vor; es geht um die "Zusicherung für den Wohnungswechsel". Die junge Frau will umziehen. Das größte Problem für sie ist nicht das Kisten packen. Sie soll der Richterin erklären, warum sie aus ihrer Wohngemeinschaft ausziehen möchte.
"Ich halte es mit meinem Mitbewohner nicht mehr aus, seit ich so viel zu Hause bin", sagt die 26-Jährige. Seit Juli bekommt sie Arbeitslosengeld II, weil sie nach der Ausbildung keine Arbeit gefunden hat. Sie will ganz schnell, Anfang November, ausziehen, ihre neue Wohnung soll 40 Euro teurer sein als die alte.
Hader mit der Begründung
Das Berliner Sozialgericht muss entscheiden, ob das Jobcenter die volle Miete übernehmen muss. Der Mitarbeiter des Jobcenters hadert mit der Begründung der Klägerin. "Sie müssen Ihre Streitigkeiten doch versuchen beizulegen", sagt er. Er verweist auf alte Urteile, nach denen einfache Streitigkeiten nicht genug seien, um auszuziehen.
"Die kenne ich nicht, zeigen Sie mir die mal", sagt Richterin Willkomm erstaunt. Die junge Frau sitzt ganz still und erklärt noch einmal ihre Situation. "Er wird sehr laut, wenn ihm etwas nicht passt, das ertrage ich nicht", sagt sie. In Neukölln möchte sie alleine wohnen. "Es gibt auch billigere Wohnungen, warum muss es diese sein", argumentiert der Prozessbeauftragte des Jobcenters.
Dann kommt der Computerbildschirm zum Einsatz. Die Richterin durchsucht die Wohnungsanzeigen im Internet. "Ihre neue Wohnung ist fast die billigste in der Gegend", sagt sie. Sie ist teurer als die alte, liegt aber unter dem Satz des Hartz-IV-Gesetzes.
Einigung mit dem Jobcenter
Die Klägerin darf umziehen, sie wirkt erleichtert. In diesem Fall hat das Gericht kein Urteil gesprochen, weil sie sich mit dem Jobcenter einigen konnte: Die junge Frau verzichtet auf Geld für Umzug und Renovierung. Willkomm tippt das Ergebnis in den Computer und druckt es für beide aus.
Sofort danach stehen die nächsten Kläger an der Tür. "Ich habe damit gerechnet, dass alles klappt", sagt die 26-Jährige im dunklen Flur des Sozialgerichts. "Aber ich finde es schlimm, dass so tief in die Privatsphäre eingegriffen wird."
Richterin Willkomm hat an diesem Tag noch vier weitere Fälle. Alle haben mit Fehlern irgendwo im System zu tun. "In vielen Prozessen verlieren die Jobcenter, weil sie Form- oder Verfahrensfehler machen", sagt Michael Kanert.
Oft gute Chancen auf Erfolg
Geld werde falsch berechnet, Fristen nicht eingehalten, Kürzungen nicht ausreichend begründet. Deshalb haben die Hartz-IV-Empfänger oft gute Chancen auf Erfolg.