Kinderarmut:Kinder verdienen ein bedingungsloses Grundeinkommen

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Armut vererbt sich - vor allem die im Kopf. (Foto: dpa)

In die Familienförderung fließen Milliarden - nur gegen Kinderarmut hilft das nicht. Gerade die Jüngsten müssten direkt unterstützt werden.

Kommentar von Constanze von Bullion

Alarmierend, inakzeptabel, unerträglich - jedes Mal, wenn in Deutschland Zahlen zur Kinderarmut präsentiert werden, kennt die Empörung kaum Grenzen. Zwischen 1,9 und 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche leben in der Bundesrepublik mit einem Armutsrisiko. Fünf von 100 Minderjährigen leiden "unter erheblichen materiellen Entbehrungen", wie das Bundessozialministerium es ausdrückt. Bei Kindern Alleinerziehender ist das Risiko, abgehängt zu werden, mehr als doppelt so hoch wie in Zwei-Eltern-Familien. Und wer bei Eltern groß wird, die beide keine Arbeit finden, lebt in einer biografischen Hochrisikozone.

Aber was bedeutet das eigentlich in der Wohlstandsnation Deutschland: Kind zu sein und arm? Ist die Bundesrepublik nicht ein Paradies üppig ausgestatteter Kinderzimmer und proppenvoller Kühlschränke, verglichen etwa mit Spanien? Dort liegt das Armutsrisiko für Kinder laut Eurostat bei über 34 Prozent, in Rumänien sogar bei knapp 47 Prozent. So gesehen steht Deutschland relativ gut da. Aber eben nur relativ.

Denn ob sie Ahmed heißen, Chantal oder Tanja: Mehr als die Hälfte der Sieben- bis 14-Jährigen in Deutschlands Hartz-IV-Familien lebt drei Jahre und länger von der Stütze. In aller Stille setzt sich da Bedürftigkeit fest, auch im Kopf.

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Seit Jahrhunderten begeistern sich Denker, Politiker und Unternehmer für das bedingungslose Grundeinkommen. Sieben prominente Beispiele.

Was das bedeutet, hat die Bertelsmann-Stiftung zusammengetragen. Solchen Kindern fehlt neben dem Markenschuh und der Wertschätzung meistens auch das Selbstbewusstsein, Chancen zu ergreifen. Sie erleben mehr Streit zu Hause als andere, neigen öfter zu Risikoverhalten, müssen häufiger Klassen wiederholen. Die Tür zur Zukunft fällt da nicht ins Schloss, sie ist gar nicht erst aufgegangen.

Schlimm? Schlimm. Nur dass es eben kaum jemanden so aufzuregen scheint, dass etwas passiert. Ein Konzept gegen Kinderarmut hat die Bundesregierung nie entwickelt, das Wort kommt im Koalitionsvertrag nicht einmal vor. Sicher, man will mit allerlei Maßnahmen helfen. Aber es stehen sich da zwei Denkschulen gegenüber wie Supermächte im Kalten Krieg.

Gestrüpp staatlicher Familienleistungen

Die erste Denkschule heißt: Kinder sind arm, weil ihre Eltern es sind. Nur wer Erwachsene besser in den Arbeitsmarkt integriert, gerade Mütter, wird Kinder aus der Armut holen. So argumentiert die SPD.

Die zweite Denkschule heißt: Kinder müssen unabhängig werden vom Erfolg ihrer Eltern. Seit Jahren fordern Sozialverbände, Linke und Grüne deshalb ein Grundeinkommen für Kinder von etwa 500 Euro im Monat. Familien mit geringem Einkommen sollen die Summe ganz bekommen statt anderer Leistungen. Besserverdiener dagegen müssten auf einen Teil des Geldes verzichten, so der Vorschlag. Je mehr sie verdienen, desto weniger bezuschusst sie der Staat.

Es wäre immerhin ein Versuch, das Gestrüpp staatlicher Familienleistungen zu lichten und vor allem: es gerechter zu machen. Denn so, wie es jetzt läuft in Deutschland, werden Besserverdiener klar bevorzugt. Es geht schon mit dem Kindergeld los, das jedem Kind in gleicher Höhe zusteht, egal, was die Eltern verdienen. Die Prämie ist für gut situierte Familien oft verzichtbar, zumal wenn beide Eltern verdienen. Egal, man nimmt halt mit, was man kriegen kann.

Recht sorglos profitieren Gut- und Großverdiener auch vom steuerlichen Kinderfreibetrag. Je höher das Einkommen ist, desto mehr Steuern spart die Familie. Der geldwerte Vorteil aber geht für Altenpflegerinnen, Ein-Euro-Jobber oder Arbeitslose gegen null.

Das Ehegattensplitting schließlich rundet das Bild ab. Der Staat schenkt Paaren ansehnliche Summen, wenn sie auf partnerschaftliche Arbeitsteilung in Beruf und Familie verzichten und einer, im Zweifel Papa, in Vollzeit schafft, während der andere, im Zweifel Mama, in Teilzeit verharrt. Auch hier gilt: Je mehr der Hauptverdiener heimbringt, desto mehr rentiert sich die Sache. Unverheiratete oder Alleinerziehende und ihre Kinder gehen beim Splitting dagegen leer aus, und so ist das auch gedacht.

Es ist das bürgerliche Familienbild der frühen Bundesrepublik, das bei diesem Fördermodell Pate stand. Grundsatz Nummer eins: Je mehr Kinder, desto besser, der Staat hat das pauschal zu fördern. Grundsatz Nummer zwei: Wer zwei Hände hat, kann anpacken und aufsteigen, das muss belohnt werden. Grundsatz Nummer drei: Die traditionelle ist die richtige Familie, das soll auch im Geldbeutel zu spüren sein.

Die Lebenswirklichkeit von Familien aber ist längst eine andere. Viele Kinder zu haben, gilt nicht mehr als Ausweis von Wohlstand, es ist ein Armutsrisiko. Und arbeiten darf schon lange nicht mehr jeder. Notgedrungen hat man an die herkömmliche Familienförderung also Zusatzleistungen gehängt wie Kugeln an den Christbaum: den Kinderzuschlag für Geringverdiener, den Steuerfreibetrag für Alleinerziehende, den Unterhaltsvorschuss, das Bildungspaket für benachteiligte Kinder.

Wer solche Leistungen beantragen und miteinander verrechnen lassen muss, fühlt sich je-doch nur selten beschenkt. Er betritt eine Papierhölle besonderer Art, aus der Eltern und ihre Kinder oft über Jahre nicht herausfinden.

Familienförderung in Deutschland ist oft ineffektiv und grundungerecht. Hauptnutznießer dieses Systems aber sind die ohnehin Privilegierten, die akademisch gebildeten Gutverdiener, die grünlich angehauchten Montessori-Eltern, konservative Mittelstandsfamilien und viele linke Weltverbesserer von einst, die Kinderarmut zwar bejammern, sich in Wahrheit aber wenig darum scheren, so lange der eigene Nachwuchs fernab von Benachteiligten aufgezogen wird. Und die CDU, einst die Familienpartei? Will jetzt ein Baukindergeld, das Mittelstandsfamilien beim Wohnungskauf unterstützt. So nach dem Motto: Genug kann nie genügen.

Wer das alles nicht mehr mit ansehen mag, muss raus aus alten Denkgebäuden. Gerade bei ärmeren Kindern wächst die Chance gesellschaftlicher Teilhabe erheblich, wenn beide Eltern Geld verdienen statt nur ein Elternteil. Das Armutsrisiko sinkt dann von 16 auf fünf Prozent. Soll das gelingen, müssen viel mehr Mütter entschlossener auf den Arbeitsmarkt zurückdrängen, in Vollzeit. Weiterführende Schulen müssen konsequent in die Lage versetzt werden, Schüler nachmittags zu betreuen und zu unterrichten, damit Armut - die im Kopf - sich nicht vererbt.

In einem Land, das im vergangenen Jahr einen Überschuss von 23 Milliarden Euro erwirtschaftet hat, muss das drin sein. Und der Fehlanreiz des Ehegattensplittings gehört abgeschafft.

So wie es ist, kann es nicht bleiben

Das Geld daraus sollte in einen Feldversuch wie den in Finnland gesteckt werden. Dort bekommen 2000 Erwachsene jetzt zwei Jahre lang ein bedingungsloses Grundeinkommen. Am Ende wird geschaut, ob es ihnen hilft, auf eigenen Beinen zu stehen.

Das Gleiche sollte Deutschland mit einem Grundeinkommen für Kinder ausprobieren. Es würde Eltern statt anderer sozialer Leistungen ausbezahlt. Stellt sich heraus, dass sie von dem Geld nur Zigaretten und Flachbildschirme kaufen, ist die Idee gescheitert. Zeigt sich aber, dass das Modell Türen aufstoßen kann in ein selbstbestimmtes Leben, ist Umdenken gefragt, hin zum Kindergrundeinkommen.

So wie es ist, kann es jedenfalls nicht bleiben. Es nehmen zu viele Leben Schaden, bevor sie richtig angefangen haben.

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