Süddeutsche Zeitung

Kinderarbeit:Fast jedes zehnte Kind muss arbeiten

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Studie: Jeder EU-Bürger gibt jährlich 100 Euro für Produkte aus, bei deren Herstellung Kinder mitarbeiten mussten. Zum Beispiel Schokolade, Elektronik oder Kleidung. Die Zahl der Kinder, die arbeiten, ist weltweit seit 2016 stark angestiegen auf 160 Millionen.

Von Caspar Dohmen, Berlin

Wer in der EU als Verbraucher einkauft, greift immer wieder zu Waren, bei deren Herstellung Kinder eingebunden sind, etwa Schokolade. Alleine zwei Millionen Minderjährige arbeiten in Westafrika beim Kakaoanbau unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, schleppen Säcke oder versprühen ungeschützt giftige Pestizide. Aber Kinder arbeiten auch in unseren Lieferketten von Elektronik, Kleidung, Spielzeug und vielen anderen Waren. Von den Gesamtimporten der EU 2019 von gut zwei Billionen Euro standen rund 50 Milliarden Euro in Verbindung mit Kinderarbeit. Rechnerisch gab damit jeder EU-Bürger pro Jahr im Schnitt rund hundert Euro für Produkte aus Kinderarbeit aus. Diesen europäischen Fußabdruck in Sachen Kinderarbeit berechneten Wissenschaftler nun erstmals für eine Studie zur europäischen Handelspolitik und Kinderarbeit der Fraktion der Grünen/EFA im Europaparlament. "Wir importieren entgegen schöner Worte und Selbstverpflichtungen weiterhin Produkte, die in Zusammenhang mit Kinderarbeit stehen", sagt die grüne EU-Parlamentarierin Anna Cavazzini und verweist auf einen Widerspruch in der EU-Handelspolitik: Einerseits gebe es internationale Verpflichtungen zur Abschaffung von Kinderarbeit, andererseits erlebe man eine mangelhafte Umsetzung von konkreten Maßnahmen etwa bei Handelsabkommen der EU.

Prinzipiell verfolgt die EU ehrgeizige Ziele. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von "Null-Toleranz" gegenüber Kinderarbeit. Aber die Aufgabe ist gewaltig und zuletzt sogar größer geworden. Denn nach erheblichen Fortschritten gegen Kinderarbeit seit Anfang der 2000er Jahre, nimmt sie seit 2016 wieder zu, berichteten kürzlich die UN-Schwesterorganisationen Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und Kinderhilfswerk UNICEF. Demnach stieg die Zahl der arbeitenden Kinder um acht Millionen auf 160 Millionen Kinder. 63 Millionen Mädchen und 97 Millionen Jungen schuften, nahezu jedes zehnte Kind auf der Welt. Infolge der Pandemie sind weltweit noch viel mehr Kinder gezwungen zu arbeiten. Die Chance ist verschwindend gering, dass die internationale Staatengemeinschaft wie geplant die Kinderarbeit bis zum Jahre 2025 beendet.

Wenn es um den Einfluss Europas auf globale Kinderarbeit geht, ist es hilfreich, zwei Gruppen zu betrachten: Zum einen jene Minderjährige, die in Familien und für lokale Märkte arbeiten, zum anderen solche, die in Lieferketten grenzüberschreitend tätiger Unternehmen arbeiten. Tatsächlich schuftet die Mehrheit der Kinder für die eigene Familie. Besonders in der Subsahara-Region in Afrika habe sich die Lage verschlechtert, sagt Annette Niederfranke, ILO-Leiterin in Deutschland. Eine zentrale Ursache sei die Klimakrise, in deren Folge Böden ausdörrten, es zu Ernteausfällen und wirtschaftlichen Notlagen komme. Selbst die Jüngsten müssten dann in einem Teil der Familien zum Einkommen beitragen. So stieg die Zahl der fünf bis elf Jahren alten Kinderarbeiter weltweit zwischen 2016 und 2020 um knapp 17 Millionen.

Auf die Lebensverhältnisse dieser Art von Kinderarbeit haben weder Unternehmen noch Konsumenten in Europa direkten Einfluss. Verantwortlich wären eigentlich die nationalen Regierungen, die häufig aber untätig bleiben, nicht können oder wollen. Unterstützen kann hier die europäische Politik mit Entwicklungshilfe, etwa um die lokale Wertschöpfung und damit die Einkommen der Menschen zu steigern, damit sie auch im Süd-Süd-Handel auskömmliche Preise bezahlen. Am meisten geholfen sei den Kindern, wenn deren Eltern alleine mit ihrer Arbeit ihre Familie ernähren können, sagt Niederfranke.

China und Vietnam sind "traurige Spitzenreiter in der Kinderarbeit"

Einen größeren Einfluss nehmen können Politik und Wirtschaft in Europa auf die Situation von Kindern, die in den Lieferketten von Unternehmen arbeiten, deren Produkte zwischen Lissabon und Bukarest verkauft werden. So importiert die EU laut der Studie der Grünen beispielsweise aus 17 Ländern Tabak für einen Wert von 246 Millionen Euro, an dessen Anbau Kinder beteiligt sind, vor allem aus Brasilien und Malawi. Bei Kakao beliefen sich entsprechende Importe auf einen Wert von 648 Millionen Euro, bei Kaffee auf 1,7 Milliarden Euro.

Wesentlich höher als bei landwirtschaftlichen Waren ist der Wert der importieren Industriewaren, in die Kinder involviert sind. Der Löwenanteil davon entfällt laut der Studie auf Elektronik, mit einem Wert von 35 Milliarden Euro. Bei Bekleidung sind es 5,4 Milliarden Euro und bei Schuhen 1,5 Milliarden Euro. Entsprechend stammen die meisten Importwaren in Europa, die durch die Hände von Kindern gehen, aus industriellen Produktionsländern in Asien, allen voran China mit Waren im Wert von gut 36 Milliarden Euro, gefolgt von Vietnam mit entsprechenden Exporten im Umfang von 1,1 Milliarden Euro. Dabei hat China einschlägige Übereinkommen der ILO zur Kinderarbeit ratifiziert, und das EU-Vietnam-Handelsabkommen enthält einen Aktionsplan zu Menschenrechten. Trotzdem seien die beiden Länder "traurige Spitzenreiter in der Kinderarbeit", sagt Cavazzini. "Ein Grund hierfür ist, dass die Umwelt- und Sozialstandards in den Abkommen nicht durchsetzbar sind, da sie bei Verstößen keine Sanktionen vorsehen." Notwendig seien "einklagbare Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung in Handelsverträgen", wie sie die EU derzeit mit China, Indien oder Brasilien plant.

Die USA und Kanada reagieren mit Strafmaßnahmen

Die USA und Kanada, die Freihandelsabkommen ebenfalls mit Vorgaben zur Einhaltung bestimmter sozialer und ökologischer Standards verbinden, setzen bereits auf härtere Maßnahmen bei Verstößen: Die USA behält sich in diesem Fall vor, Zollerleichterungen zurückzunehmen, und Kanada finanzielle Strafen zu verhängen.

Die europäischen Grünen schlagen zum Kampf gegen Kinderarbeit eine ganze Palette an Möglichkeiten vor: positive und negative Anreize für Handelspartner, Maßnahmen im öffentlichen Beschaffungswesen, Listen von Produkten, die mit Kinderarbeit hergestellt wurden und Importverbote in Fällen von Kinderzwangsarbeit. Eine abgestufte Vorgehensweise, je nach dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand von Handelspartnern, findet auch ILO-Vertreterin Niederfranke sinnvoll, um den betroffenen Kindern zu helfen.

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