Kinder in China:Kaderschmiede im Klassenzimmer

Kinder in China hatten früher drei Traumberufe: Arbeiter, Bauer oder Soldat - jetzt bereiten sich schon Fünfjährige auf ihre Karriere als Manager vor.

Janis Vougioukas

Der kleine Redner tritt auf das Podest, jemand reicht ihm ein Mikrofon. Aber es ist viel zu groß, er muss es mit beiden Händen vor seinem Kopf festhalten. Das war der Moment der Ablenkung, und auf einmal sind die Worte verschwunden, die er sich in Gedanken zurechtgelegt hatte. Er senkt den Blick auf seine Turnschuhe und versucht, den Augen des Publikums auszuweichen. Im Saal ist es jetzt ganz still.

Kinder in China: Ein Kind betrachtet auf der High-Tech-Messe in Peking einen Laptop.

Ein Kind betrachtet auf der High-Tech-Messe in Peking einen Laptop.

(Foto: Foto: AP)

Eine freundliche Erwachsenenstimme kommt zu Hilfe: "Wir wollten heute über Flüstertüten diskutieren, ihr seid Experten", sagt der Lehrer. Und sofort hat der Redner den roten Faden wiedergefunden und beginnt seinen Vortrag mit strahlendem Gesicht: "Verehrtes Publikum! Wir haben heute Flüstertüten aus Papier gebastelt. Man kann Flüstertüten zum Sprechen benutzen, die Stimme wird dadurch lauter."

Sitzungssaal im Kindergarten

Es ist Freitagabend in der chinesischen Boomstadt Schanghai, ein Konferenzraum im zehnten Stockwerk eines Hochhauses im Wirtschaftsdistrikt Pudong. Vor der Rednerbühne stehen gelbe Tische, U-förmig zusammengerückt, dahinter blau bezogene Sitzungsstühle. Der Teppichboden in der Mitte des Raums ist mit einer Weltkarte bestickt. Alles ist arrangiert wie in der Welt der Erwachsenen, wie im Sitzungssaal einer Vorstandsetage. Doch Tische und Stühle sind winzig und noch bunter als die Kinderzimmer in den Ikea-Katalogen.

Elf Kinder sitzen hier aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken. Und als der Redner seinen Vortrag beendet hat, klatschen sie mit übertriebener Begeisterung. Denn irgendwann ist jeder von ihnen dran.

Es ist putzig zu sehen, wie die Kinder versuchen, Vorträge zu halten und sich wie Erwachsene zu benehmen. Aber es ist viel mehr als ein Spiel. Das Programm heißt "Early MBA" und verspricht, Kleinkindern "Grundwissen in Themenbereichen wie Wirtschaft und Naturwissenschaften" beizubringen, dazu Erfahrung im Diskutieren und Präsentieren. Der jüngste Kursteilnehmer ist drei Jahre alt - noch früher kann die Vorbereitung auf einen Beruf nicht beginnen.

Kinder spüren den Erfolgsdruck am stärksten

30 Jahre nach dem Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen hat die Modernisierung die Kinderzimmer erreicht. Und in Kindergärten und Schulklassen kann man erkennen, wie Arbeitsethik und Leistungsbereitschaft neu definiert werden. China ist zur Ellbogengesellschaft geworden. Und die Kinder spüren den neuen Erfolgs- und Karrieredruck am stärksten. Seit jede Familie nur ein Kind haben darf, tragen Chinas Einzelkinder die Hoffnungen und Wünsche einer ganzen Verwandtengeneration mit sich im Schulranzen.

Liu Chenyu ist fünf Jahre alt, er hat einen Pilzkopf-Haarschnitt wie früher die Beatles und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann kommt jedes Mal einer der beiden Lehrer, drückt mit der Hand gegen seinen Rücken und mahnt: "Jason, bitte sitz still!" Im MBA-Kurs gelten englische Namen als schick. Jason ist müde, es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Sein Tag heute war so: Um acht Uhr morgens ist er in den Kindergarten gefahren. Nach der Morgengymnastik und dem Bastelunterricht hat er beim chinesischen Schachspiel gegen die anderen Kinder gewonnen. Seine Mutter hatte ihn nach der Arbeit vom Kindergarten abgeholt und in den Kinderpalast gebracht.

Englisch im Kindergarten gelernt

Jeden Abend hat er dort eine Stunde Klavierunterricht. Und nach der Musikstunde wartet vor dem Kinderpalast mit laufendem Motor der Wagen, der ihn zu seinem MBA-Kurs bringt. Freitags drängeln sich die Termine besonders dicht. Trotzdem sagt Jason, dass er sich jedes Mal auf die Kurse freue. "I like it very much", sagt er. Englisch hat er im Kindergarten gelernt.

Das Büro der Schulleiterin liegt gleich am Eingang hinter einer Glaswand. Mao Yanfang ist selbst erst 25 Jahre alt, sie trägt eine bunt bestickte Jeans und hat ihre Haare hellrot gefärbt und zu Locken gedreht. Sie sieht gar nicht so aus, wie man sich die Leiterin eines MBA-Programms vorstellen würde. Die Business School für Kinder heißt FasTracKids, eine Art Abendschule für Kleinkinder. Ursprünglich kommt die Idee aus den USA. In China ist das Konzept seit einigen Jahren besonders erfolgreich.

Vier Schulen gibt es inzwischen allein in Schanghai, über 3000 Kleinkinder bereiten sich hier auf den Berufsalltag vor. "Natürlich ist unser Kurs nicht mit einem richtigen MBA-Programm zu vergleichen", sagt die Schulleiterin. Mao Yanfang muss oft erklären, was sich hinter dem Kinder-MBA verbirgt. Besuchern zeigt sie zuerst immer eine Videopräsentation, um das pädagogische Programm von FasTracKids zu erklären.

Kleinkinder lernen Wirtschaft und Biologie

Die Schulleiterin dimmt das Licht, an der Wand leuchten schnell geschnittene Bilder einer boomenden Wirtschaft: Fabrikhallen mit riesigen Maschinen, Flugzeuge, Tausende Menschen in Bürouniformen wandern über die Leinwand. Dann tauchen abwechselnd die Köpfe von Bill Gates, dem Hongkonger Milliardär Li Ka-shing und einem Nobelpreisträger der Ökonomie auf, das Ganze unterlegt mit einer leicht bedrohlich klingenden Männerstimme. Dann sieht man die bunten Seminarräume von FasTracKids, lachende Kleinkinder lernen Biologie, Mathematik, Wirtschaft - zwölf Fächer stehen insgesamt auf dem Lehrplan.

Es ist ein sehr plumper Werbefilm, und die Botschaft ist eindeutig: Wer später einmal erfolgreich sein will, muss heute so früh wie möglich anfangen, dafür zu arbeiten. "Drei bis sechs Jahre ist das ideale Alter, um früh mit der Ausbildung von Kindern zu beginnen", sagt Mao.

Eigentlich waren die Chancen auf dem chinesischen Arbeitsmarkt nie besser. Den jungen Chinesen stehen heute Karrierewege offen, die ihre Eltern gar nicht kennen. Doch mit den Veränderungen der vergangenen Jahre wuchs auch die Unsicherheit.

Kaderschmiede im Klassenzimmer

Noch vor ein paar Jahren entschieden allein die Beziehungen zur Kommunistischen Partei über das berufliche Fortkommen. Wer einen Onkel bei der Stadtverwaltung hatte, musste sich nie um seine Karriere sorgen. Millionen chinesische Kinder hatten drei Traumberufe: Arbeiter, Bauer oder Soldat. Heute sitzen die Vorbilder in den Führungsetagen der Weltkonzerne, und ihre berufliche Laufbahn wird im Assessment Center entschieden. Und jeder Jugendliche wächst in dem Bewusstsein auf, gegen 1,3 Milliarden Menschen zu konkurrieren.

Führungsqualitäten nach dem Kurs

Mao Yanfang macht Eltern keine Versprechen. "Jedes Kind hat eine eigene Persönlichkeit. Es ist durchaus möglich, dass ein Kind auch nach dem zweijährigen Kurs keine Führungsqualitäten zeigt. Aber wer den MBA-Kurs bei FasTracKids besucht, hatte wenigstens eine Chance." Zhou Weihong, Jasons Mutter, hatte der Schulleiterin aufmerksam zugehört. Und am Ende des Vortrags sagt sie: "Ich würde Jason nicht in den MBA-Kurs schicken, wenn es ihm keinen Spaß machen würde." Doch sie nimmt die Ausbildung ihres Kindes noch ernster als viele andere chinesische Eltern. Zhou ist Finanzchefin einer Handelsfirma. Ihr Mann arbeitet als Softwareingenieur für den Computerkonzern HP. Man muss ihre Geschichte kennen, um zu verstehen, warum ihre Erwartungen an ihren Sohn so groß sind.

Abendessen kochen mit vier Jahren

Zhou wurde auf dem Land geboren, im Dorf Tiemen in der Provinz Hubei, wo die Erde sich zu Bergen und Hügelketten aufwirft, bedeckt von weiten Wäldern. 20 andere Familien wohnten damals in Tiemen und arbeiteten auf den Reis- und Baumwollfeldern. Das Leben da war ganz anders als in der Stadt. Ihr Vater arbeitete weit entfernt in einer Autoreifenfabrik und kam nur zwei Mal pro Jahr nach Hause. Großeltern hatte sie nicht. So war es ganz selbstverständlich, dass sie schon als kleines Mädchen ihrer Mutter half. Als sie vier Jahre alt war, kochte sie Abendessen für die Familie. Mit sechs Jahren wusch sie die Wäsche, nur bei der schweren Winterkleidung half ihr die Mutter.

Zhou führte Rinder auf die Weide und fütterte die Schweine. "Wir waren arm, aber wir wussten es nicht, weil wir keinen Vergleich hatten", sagt sie. "Es war für uns Kinder normal, Verantwortung zu tragen, wir wurden damit selbständig und erwachsen." Zehn Dörfer hatten sich damals zusammengeschlossen und eine kleine Schule eröffnet. Zhou lief morgens über die Felder zum Unterricht. Das Schulgebäude war ein einfaches Ziegelhaus, nicht einmal Strom gab es da. Doch sie liebte den Unterricht.

Es war ein weiter Weg von der Dorfschule bis in die Führungsetage einer Firma in Schanghai. Zhou hat ihr ganzes Leben für ihren Erfolg kämpfen müssen, und vielleicht verspürt sie deshalb noch mehr als andere Eltern den Wunsch, dass ihr Sohn es im Leben besser und einfacher haben soll. 4000 Yuan geben Zhou Weihong und ihr Mann jeden Monat für die Ausbildung und Förderung ihres Kindes aus, umgerechnet gut 360 Euro.

Hundezähne für faule Zähne

In Schanghai ist das doppelt so viel wie ein monatlicher Durchschnittslohn. Tatsächlich ist Bildung inzwischen zu einem der bedeutendsten chinesischen Wirtschaftszweige geworden. Studien kamen zu dem Ergebnis, dass mehr als 60 Prozent der chinesischen Stadtbewohner inzwischen ein Drittel ihres Einkommens für die Ausbildung ihrer Kinder ausgeben. Das China Youth & Child Research Centre warnt bereits vor zu großem Erfolgsdruck. Eine groß angelegte Elternbefragung des Instituts kam zu dem Ergebnis, dass 92 Prozent der chinesischen Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder einen Universitätsabschluss erreichen. 55 Prozent hoffen sogar auf einen Doktorgrad.

Früher hatten die ungebildeten Kinder vom Land wenigstens die Chance auf eine Karriere beim Militär. Inzwischen ist die Selektion selbst da hart geworden. Die Shenyang Evening Post berichtete kürzlich, dass eine immer mehr Rekrutinnen der Volksbefreiungsarmee sich faule Zähne durch Hundezähne ersetzen lassen, um ihre Chancen beim medizinischen Eignungstest zu verbessern.

Es ist Sonntagnachmittag. Eine dichte Smogdecke hängt über der Stadt. Doch irgendwo hoch oben muss die Sonne scheinen, denn der ganze Himmel leuchtet grellweiß wie eine Neonlampe. Zhou Weihong hat Jason in den Century Park mitgenommen. Am Eingang stehen Luftballonverkäufer. Ein Kanal läuft zwischen den Kirschbäumen durch den Park. Man kann blaue Elektroboote mieten, doch auf dem Wasser ist es so voll, dass sich die Boote alle paar Meter zu Knäueln verheddern. Jason trottet hinter der Mutter her, ohne aufzublicken."Ich merke, wie die junge Generation sich verändert hat", sagt seine Mutter.

Unselbständige Kinder

Chinas Kinder sind unselbständig geworden. Wenn Jason spielen will, muss sie ihm oft sagen, womit. Er langweilt sich häufig. Und ständig will er, dass die Mutter beim Spielen neben ihm steht. "Wir hatten früher nicht einmal Spielzeug. Jason hat ein ganzes Zimmer voll. Doch wenn er allein ist, weiß er nicht, was er machen soll", sagt Zhou. Chinas Ein-Kind-Politik hat die Jugend zu einer Generation von verwöhnten Einzelkindern gemacht. Aus Sorge um den einzigen Nachwuchs kümmern sich Eltern und Großeltern nur noch mehr um ihre Kinder - und ihre übergroße Obhut verstärkt viele Probleme noch weiter. Der Wechsel in die Arbeitswelt ist dann für viele ein Schock.

Zhou Weihong kennt das Problem, sie will die Karriereerwartungen für ihren Sohn nicht zu hoch anlegen. "Ich wünsche mir nur, dass er einen Beruf findet, mit dem er glücklich wird", sagt sie. In China ist das ungewöhnlich bescheiden.

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