Süddeutsche Zeitung

Kettcar-Hersteller:Schluss mit Nostalgie

Lesezeit: 3 min

Von David Denk

Autos haben der Heinz Kettler GmbH & Co. KG nicht nur Glück gebracht. Diese schicksalhafte Ambivalenz springt beim Blick in die Firmenhistorie gleich ins Auge: Zwar ist das Tretauto "Kettcar", das Heinz Kettler 1961 erfand und von dem mittlerweile mehr als 15 Millionen Exemplare verkauft wurden, eines der größten Erfolgsprodukte des Unternehmens, eine Konsum-Ikone der Nachkriegszeit. Wie der VW Käfer, nur ohne Motor. Doch Autos haben den Kettlers auch mehr Leid zugefügt, als eine Familie ertragen kann: 1981 starb Heinz Kettler junior, der Sohn und designierte Nachfolger des Firmengründers, an den Folgen eines Verkehrsunfalls. 2017 verunglückte Tochter Karin, die der Patriarch kurz vor seinem Tod 2005 doch noch in die Unternehmensführung geholt hatte, im Alter von 57 Jahren. Als Alleininhaberin und Geschäftsführerin hatte die promovierte Biologin kein glückliches Händchen, 2015 musste die Firma zum ersten Mal Insolvenz anmelden, 2018 erneut.

Das Ende schien nah. Doch seit Anfang Dezember zeichnet sich ein kaum noch für möglich gehaltenes Happy End ab. Am Nikolaustag wurde der Verkauf des Familienunternehmens an den auf Mittelständler spezialisierten Finanzinvestor Lafayette besiegelt, womit wohl zumindest 500 der 700 Arbeitsplätze in den drei Kettler-Werken gerettet werden können. Nach der zweiten Insolvenz im Juli hatte ein erster Investor im Streit mit der gemeinnützigen Heinz-Kettler-Stiftung, die Karin Kettler noch als Alleinerbin eingesetzt hatte, aufgegeben. Ziel des neuen Eigentümers ist nun einem Sprecher zufolge, "die Kurve von der Traditions- zur Trendmarke" zu kriegen - ein Manöver, das schon anderen bekannten Marken wie dem Modelleisenbahnbauer Märklin und dem Hersteller der Carrera-Autorennbahnen große Schwierigkeiten bereitet hatte. Nostalgie allein ist eben kein Businessplan.

Kettcar - dieser aus dem Familiennamen des Gründers und dem englischen Wort für Auto zusammengesetzte Markenname ist so klangvoll, so reich an Kindheitserinnerungen für Generationen, dass sich 2002 sogar eine Hamburger Indierockband nach dem Tretauto aus dem Sauerland benannte. Gut, die Alternative wäre "Brokkoli" gewesen, auch eine Kindheitserinnerung, aber keine so schöne und überdies schon an eine andere Formation vergeben. Eine befreundete Band nannte sich Tomte, nach einer Astrid-Lindgren-Figur. So wecken schon die Namen warme Gefühle (vor allem) bei in den Siebziger- und Achtzigerjahren Geborenen. Es sind Flashbacks in Stunden des Glücks, die an schier endlose Sommertage zurückführen, an denen Kinder in Kettcars Reihenhaussiedlungen unsicher machten und an Abende, an denen ihnen Oma vorm Schlafengehen noch ein bisschen aus "Tomte Tummetott" vorlas.

Die Geschichte des Kettcars ist eine Geschichte des doppelten Aufstiegs: Zum einen, weil das Kettcar seine stolzen Besitzer nach Bobbycar und Tretroller erstmals mit den Segnungen des Pedal- und Kettenantriebs in Berührung bringt, außerdem hat es eine Handbremse, und zurücklehnen kann man sich im Schalensitz auch. Das ist praktisch auf längeren Strecken. Zum anderen, weil der Erfolg der Firma Kettler untrennbar verbunden ist mit Wirtschaftswunder und wachsendem materiellen Wohlstand. Die Firma Kettler wurde zum Ausrüster der Freizeitgesellschaft und gab den Deutschen, was sie sich verdient hatten: Gartenmöbel, Fitnessgeräte, Fahrräder, Spielzeug und eben das Kettcar, das in vielen Familien der Zweit-, wenn nicht gar der Drittwagen war - und der einzige mit tadelloser CO₂-Bilanz. Aber das zählte nicht. Was zählte: freie Fahrt für freie Bürger. Das Kettcar war nicht zuletzt auch ein Geschenk für die Autoindustrie, züchtete es doch neue Kunden heran, die sich noch Jahrzehnte später verzückt daran erinnern, dass ihr Kettcar damals sogar schon ein Nummernschild hatte.

Der Mythos Kettcar lebt

Ende der Achtzigerjahre war Kettler auf dem Höhepunkt des Erfolgs, der knapp 15 Jahre währte, beschäftigte 3500 Mitarbeiter, exportierte in 60 Länder. Doch schleichend verlor die Firma den Anschluss an den Zeitgeist, ein Kettcar mit Elektroantrieb floppte. Nach dem Tod des Patriarchen schlug die Stunde der Unternehmensberater, die in der Firmenzentrale in Ense ein- und ausgingen und dazu rieten, Teile der Fertigung nach Asien zu verlagern, Jobs abzubauen und das wuchernde Sortiment zu verkleinern. Die Vorschläge scheiterten allesamt an Karin Kettlers Widerstand. Sie wollte das Familienerbe offenbar nicht aufgeben - und trug gerade deshalb zum Niedergang des Unternehmens bei. Um es zu retten, musste sie 2015 zulassen, dass die Fahrradsparte im Zuge der ersten Insolvenz an den Einkaufsverbund ZEG verkauft wurde. Es blieb ein kurzer Neuanfang. 2019 folgt nun also der nächste.

Doch der Mythos lebt: Als der mehrfache Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel 2010 zum "Sportler des Jahres" gekürt wurde, verließ er die Bühne auf einem Kettcar. Und sein Kollege Michael Schumacher nannte das Tretauto, dessen Modelle nach legendären Rennstrecken wie "Monza", "Hockenheim" oder "Sao Paulo" benannt sind, einmal "ein Stück Freiheit auf Vollgummireifen". Aber man muss Jahre nach dem Umstieg vom Kettcar auf andere Gefährte nicht Rennfahrer geworden sein, um diese Liebeserklärung nachvollziehen zu können.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4247120
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.01.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.