Kernkraft:Der gefährliche Trick mit der Notfallkühlung in Atomkraftwerken

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Das Atomkraftwerk Dukovany bei Brünn in Tschechien (Foto: Martin Divisek/Bloomberg)
  • Überhitzt der Reaktordruckbehälter eines Atomkraftwerks wird er zur Sicherheit mit Notkühlwasser geflutet.
  • Doch das "Kühlwasser" ist in vielen Atomkraftwerken Europas schon lange nicht mehr kühl, es wird vorgeheizt.
  • Ursache ist, dass viele Behälter in Europa relativ alt sind. Und je älter der Stahl desto weniger verträgt er Temperaturunterschiede.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Die Betreiber des Atomkraftwerks Temelín sehen für Beunruhigung überhaupt keinen Grund. "Das ist keine Sicherheitsmaßnahme", versichert ein Sprecher der Betreiberfirma ČEZ, "sondern Ergebnis einer ständigen Verbesserung." Ziel sei lediglich, die Auswirkungen eines möglichen Einsatzes der Notkühlung "auf die Lebenszeit des Reaktordruckbehälters zu verringern". So kann man es auch sagen.

Der Reaktordruckbehälter, ein Hunderte Tonnen schweres Gebilde aus geschmiedetem Stahl, ist das Herz eines jeden Atomkraftwerks. Hier befinden sich die Brennstäbe, hier läuft die nukleare Kettenreaktion ab. Hier entsteht jene Hitze, deren Dampf später Turbinen antreibt, um daraus Strom zu gewinnen.

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Läuft etwas richtig schief in dem Behälter, dann schlägt die Stunde des Notkühlwassers. Der Behälter wird damit geflutet, es soll die Reaktion unterbrechen und gleichzeitig den Reaktor herunterkühlen. Das ist die Theorie.

Ein geborstener Behälter ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann

Doch das "Kühlwasser" ist in vielen Atomkraftwerken Europas schon lange nicht mehr kühl, es wird vorgeheizt. Nach Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung wird allein in der EU in mindestens 18 Reaktoren gewärmtes Wasser verwendet.

In den beiden Temelín-Reaktoren etwa ist das Notkühlwasser zwischen 55 und 60 Grad heiß, ebenso in den vier Blöcken des anderen tschechischen Kraftwerks Dukovany. Auch der umstrittene französische Reaktor Fessenheim 2 und drei Blöcke des belgischen Kernkraftwerks Doel heizen den Recherchen zufolge vor, ferner Kraftwerke in Finnland und der Slowakei. Nicht alle wollen sich dazu äußern.

In deutschen Atomkraftwerken werde nirgends "aufgrund des aktuellen bzw. am Ende ihrer Lebensdauer zu erwartenden Werkstoffzustandes" Notkühlwasser vorgeheizt, heißt es aus dem Bundesumweltministerium.

Kühlwasser kann den Reaktordruckbehälter zerbrechen lassen

Doch was Betreiber als Fortentwicklung der Technik preisen, bereitet Experten zunehmend Kopfzerbrechen. Denn hinter dem vorgeheizten Notkühlwasser steht die sogenannte "Neutronenversprödung".

Am Stahl des Reaktordruckbehälters nagt der Zahn der Zeit. "Je länger Stahl mit Neutronen bestrahlt wird, desto spröder wird er", sagt Michael Sailer, Chef der deutschen Entsorgungskommission und über viele Jahre Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. Und im Schnitt sind Europas AKW mittlerweile knapp 32 Jahre alt.

Die Folge ist ein neues Risiko. Je spröder der Stahl, desto weniger verträgt er plötzliche Temperaturunterschiede - etwa, wenn bei 280 Grad Celsius Betriebstemperatur Notkühlwasser eingeleitet werden muss. "Dann kann es zu einem sogenannten Sprödbruch kommen", sagt Sailer. "Der Reaktordruckbehälter birst." Oder, in der Sprache des Temelín-Betreibers ČEZ: Dann ist die verbleibende Lebenszeit des Behälters gleich null. Und das durch den Einsatz jener Notkühlung, die doch eigentlich das Schlimmste verhüten soll.

Damit werden die Herzkammern des Reaktors zunehmend zum Problemfall der Betreiber. In der Schweiz, wo kommenden Sonntag über die Zukunft der Atomkraft abgestimmt wird, steht seit Monaten der Reaktor Beznau 1 still, nach Unregelmäßigkeiten beim Stahl. In Belgien waren schon 2012 Risse in Reaktordruckbehältern in Doel und Tihange entdeckt worden. In Frankreich werden derzeit zwölf der 58 AKW überprüft - wegen Mängeln am Stahl (siehe Artikel "Die Lage ist sehr beunruhigend"). Was so ein Behälter aber im Notfall noch aushält, das spielte bis jetzt allenfalls in Fachkreisen eine Rolle. Dabei ist ein geborstener Druckbehälter so ziemlich das Schlimmste, was in einem Kernkraftwerk passieren kann.

Die Praxis ist auch in Russland und den USA verbreitet

"Wenn man nicht mehr sicher ist, dass der Reaktordruckbehälter das normal temperierte Notkühlwasser aushält, dann ist das allein schon ein Alarmsignal", sagt Wolfgang Renneberg, bis 2009 der oberste Atomaufseher im Bund. Wichtige Sicherheitsreserven würden so abgebaut. So sei unklar, was bei einem Ausfall der Vorwärm-Anlagen passiere oder wenn ein defekter Messfühler die Temperatur des Notkühlwassers falsch erhebe. Auch werde es immer schwerer, jene Temperatur zu treffen, die einerseits niedrig genug ist, um den Reaktor zu kühlen, aber gleichzeitig hoch genug, um den Behälter nicht zu gefährden. "Bei solch einer Maßnahme sträubt sich wirklich alles in mir", sagt Renneberg. "Das geht an die Substanz."

Wie viele Kraftwerke genau auf diese Weise Vorsorge betreiben, ist nicht bekannt. Weder die Internationale Atomenergiebehörde noch nationale Aufsichtsbehörden haben bislang Angaben dazu veröffentlicht. Offenbar ist die Praxis aber auch in Russland und den USA verbreitet. "Aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten kann ich so eine Anlage nicht betreiben", warnt Manfred Mertins, einst Experte bei der Gesellschaft für Reaktorsicherheit.

Doch die Betreiber verfolgen andere Wege. Vielerorts haben sie die Brennelemente im Reaktor so gruppiert, dass neuere Brennelemente von älteren umgeben werden - sie setzen weniger Neutronen frei, was die Stahlwände schonen soll. Die Neutronenversprödung, sagt Kommissionschef Sailer, werde mit all dem aber nicht aufgehalten. "Egal, was man macht, man gerät immer näher an die Grenzen des Materials."

© SZ vom 24.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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