Süddeutsche Zeitung

Kernenergie:Wie Siemens doch wieder zum Atomkonzern werden könnte

  • Für ein Atomkraftwerk im finnischen Olkiluoto könnte Siemens demnächst in der Verantwortung stehen, weil der französische Partner Areva zerschlagen werden soll.
  • Öffentlich streiten der Kraftwerksbetreiber TVO und die Münchner nun darüber, wer wie viel Verantwortung für das einstige europäische Vorzeigeprojekt tragen muss.
  • Der Meiler im hohen Norden bereitet seit Jahren Probleme: Der Bau liegt weit hinter dem Zeitplan und auch die Kosten sind weit höher als veranschlagt. Außerdem gilt Atomkraft inzwischen als unrentabel und zu riskant.

Von Michael Kläsgen und Karl-Heinz Büschemann

Anna Lehtiranta ist extra für dieses Gespräch aus dem fernen Finnland nach München geflogen, so wichtig ist es ihr. Nun schiebt sie Schaubilder über den Tisch. Darauf zu sehen sind OL1, OL2 und - darum geht es - OL3, der dritte Reaktorblock in Olkiluoto an der finnischen Westküste. Das Wichtigste ist aber die Botschaft, die das Vorstandsmitglied des finnischen Kraftwerksbetreibers TVO mit im Gepäck hat. Sie lautet: Siemens muss die Fertigstellung dieses Atomreaktors für dem Fall finanzieren, dass Areva, der französische Partner des Münchner Konzerns, demnächst nicht mehr existieren sollte.

Mehr noch: Siemens müsste dann auch dafür sorgen, dass der nuklearen Kraftwerksteil fertig wird und wäre nicht mehr nur allein zuständig für die Turbine, die der Konzern gebaut hat. Denn, so macht es Lehtiranta, Senior Vice President Corporate Relations, klar: Ein Konsortialpartner haftet für den anderen, wenn dieser ausfällt. So sehe es der Vertrag vor. Und damit nicht genug: TVO sucht auch händeringend nach einem Partner, der hilft, Teile des Atomkraftwerks dann instand zu halten, zu modernisieren oder zu reparieren, wenn OL3 einmal fertiggestellt sein sollte. Voraussichtlich wird das Ende 2018 der Fall sein, wie TVO am Montag mitteilte.

Aber kann dieser Partner Siemens sein? Der Konzern, der sich klar von der Kernkraft verabschiedet hat? So wie ganz Deutschland, das aus der Atomkraft aussteigen will?

Siemens reagiert beleidigt auf den öffentlichen Angriff

Ein Konzern-Sprecher sagt: "Siemens bedauert, dass es TVO vorzieht, Argumente über die Presse auszutauschen anstatt am Verhandlungstisch eine konstruktive Lösung im Sinne des Projekts zu suchen." TVO hingegen bedauert, dass sich Siemens einem Dialog über diese kritischen Fragen verweigert.

Im Prinzip wollen die Finnen, dass Siemens seinen Einfluss bei Areva geltend macht und die Franzosen endlich für Klarheit sorgen. Denn nach Jahren der Verzögerung wird OL3 nun bald fertiggestellt sein, aber jetzt weiß TVO nicht, wie es dann weitergehen soll. Der französische Staat hat nämlich entschieden, Areva zu zerschlagen und einzelne Teile zu verkaufen. Im Wesentlichen soll der Staatskonzern Areva in den Staatskonzern EDF aufgehen. Nur: OL3 soll davon ausgeklammert werden.

Das einstige Vorzeigeprojekt gilt heute als "toxisch". Niemand will es haben

Zu OL3 muss man wissen: Der Reaktor hat eine traurige Berühmtheit erlangt. Anfang der Nullerjahre taten sich Deutsche und Franzosen, das heißt: Siemens und Areva, zusammen, um eine neue Generation von Reaktoren zu bauen, den Europäischen Druckwasserreaktor (EPR). Die Atomkraftnation Frankreich feierte den EPR als neues Vorzeigeprojekt. Doch dann verlängerte sich die Bauzeit wieder und wieder und die Kosten stiegen höher und höher. Der Unfall von Fukushima erschütterte das Vertrauen in die Atomkraft. Die Schulden des Atomkonzerns Areva schnellten nach oben. Aus dem Vorzeigeprojekt wurde ein "toxid asset", ein Objekt, das jetzt selbst ein vom Staat kontrollierter Energiekonzern wie EDF nicht will.

Areva macht zwar deutlich, "dass die Restrukturierung des Unternehmens keinerlei Einfluss auf die Ausführung des OL3-Projekts haben wird". TVO hingegen fürchtet, dass OL3 nur noch von einer "leeren Hülle", einer "Rest-Areva" ohne ausreichende Finanzmittel, betreut wird.

Tatsächlich steht das gesamte Geschäftsmodell von OL3 heute infrage. Lehtiranta sagt, die Großhandelspreise für Strom seien so niedrig, dass der Bau neuer Kraftwerke nicht profitabel und ohne Staatshilfen unmöglich sei.

Wenige Neubauten, viele alte Meiler

Weltweit hat die Atomenergie heute einen schweren Stand, obwohl oft von einer kommenden Renaissance der Kernkraft gesprochen worden ist. Tatsächlich ist an der Zahl der weltweiten Neubauten von Atomkraftwerken nicht zu erkennen, dass es zu einem dramatischen Ausbau der Atomstromkapazitäten kommen wird. Eher sieht es nach einer Verringerung aus. Ein Grund liegt in den hohen Kosten für die atomare Stromerzeugung, die sich durch hohe Sicherheitsstandards, aufwendige Entsorgung des nuklearen Abfalls und den teuren Abriss der Anlagen erklären. Für die Betreiber werden die Risiken, wie das Beispiel TVO zeigt, unkalkulierbar.

Die Zahl der Atomkraftwerke liegt nach Angaben der Internationalen Atomenergieagentur weltweit bei 450 und ist über die zurückliegenden Jahre kaum verändert. Hingegen zeigt sich eine starke Überalterung der Anlagen. Heute sind 60 Prozent aller in der Welt laufenden Atomkraftwerke 30 Jahre alt oder noch älter. Sie haben den größten Teil ihrer Lebensdauer hinter sich und müssten in absehbarer Zeit ersetzt werden. In den vergangenen zehn Jahren wurden aber nur 40 neue Atomanlagen in Betrieb genommen.

Im Moment wird weltweit an 60 Neubauten gearbeitet. China baut 20 Atomkraftwerke, Russland sieben, die arabischen Emirate vier. Die Hälfte der Neubauten in der Welt entsteht damit in Ländern, die keine reinen Marktwirtschaften sind. Der Energiegroßverbraucher USA, bei dem sich Atommeiler privatwirtschaftlich amortisieren müssen, baut derzeit nur an vier Atomkraftwerken. In Finnland ist OL3 das einzige Kraftwerk im Bau.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2016/sry
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