Keine Entscheidung ohne Konflikt:Warum Politik nie alternativlos ist

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2007 in Grönland - Angela Merkel war damals schon Kanzlerin, Sigmar Gabriel Bundesumweltminister.

(Foto: AFP)

Schluss mit Floskeln: Es gibt immer eine Alternative - wenn auch nicht immer eine bessere. Wer seine Bürger für sich gewinnen will, muss sie bei Entscheidungen mitnehmen. Mit Haltung, Erklärung und Aufrichtigkeit.

Essay von Michael Bauchmüller

Es war einmal eine Kanzlerin, die machte sich auf ins Eis. Zusammen mit ihrem Umweltminister begab sie sich ins ferne Grönland. Ein langer Flug hin, eine Nacht, in der die Sonne nicht unterging, ein langer Flug zurück. Von dieser Reise im Sommer 2007 sind heute vor allem die Bilder in Erinnerung: Angela Merkel und Sigmar Gabriel, beide in roten Anoraks, vor der Kulisse schmelzender Eisschollen. Und genau dafür brauchte es diesen Trip.

Regierende haben es nicht leicht. Sie haben die Macht, Dinge zu ändern, aber stets ist ihr Mandat begrenzt. Weil sie dieses Mandat alle paar Jahre erneuern müssen, laufen sie immer Gefahr, Mehrheiten zu verlieren. Aber sie können, mehr als andere, Stimmungen beeinflussen. Sie können Schwerpunkte setzen, können gestalten. Und dazu braucht es auch Bilder - wie die aus dem Eis. Es braucht Überzeugungen und den Mut, sie zu vertreten, und, wichtiger noch: sie zu erklären.

Die Erklärung von Politik ist das Gegenstück zur Alternativlosigkeit. Es gibt immer und zu allem Alternativen, und Politik kann sie aus guten Gründen verwerfen. Doch sie gerät unter wachsenden Druck, sich zu erklären. In dem Maße, in dem sich eine "Alternative für Deutschland" anbietet, in dem sich Menschen in Filterblasen ihre eigenen Wirklichkeiten schaffen und Bürger gegen jede Art Veränderung zur Wehr setzen, bedarf es der Fundamente für politische Entscheidungen. Ein Koordinatensystem, das Wähler verstehen.

Das steckte letztlich auch hinter dem Ausflug ins grönländische Eis. Der Sommer 2007 bot die Chance, Politik zu fundieren, Angela Merkel ergriff sie. Deutschland hatte gleichermaßen im Kreis der EU als auch im Industriestaaten-Klub G 8 den Hut auf. Die Kanzlerin wollte den Klimaschutz zu einem ihrer Themen machen, und zwar so, dass auch ihre Wähler ihr dabei folgen konnten. Dazu brauchte sie den Ausflug nach Grönland: Er sollte zeigen, wie ernst die Lage ist an der Front des Klimawandels - und wie sich die Bundesregierung darum kümmert. Aus dieser Zeit stammt der Titel der "Klimakanzlerin". Leider blieb die Episode recht kurz.

Aber sie lehrt einiges über den Politikbetrieb, über seine Suche nach Legitimation und seine Fähigkeit, sie selber herzustellen, und sei es über Bilder. Sie helfen, Politik zu erklären. Auch die Ethikkommission, die nach dem Unglück in Fukushima den deutschen Atomausstieg unter die Lupe nehmen sollte, folgte dieser Logik: Letztlich hatte sie vor allem die Funktion, eine Entscheidung zu fundieren. Das alles verlangt echten Gestaltungswillen. Eine Politik, die nicht gestalten will, setzt sich dem Willen der Mehrheit bedingungslos aus. Sie hat auch nichts zu erklären, denn sie verfolgt letztlich kein Ziel außer dem Erhalt einer Regierungsmehrheit.

Kaum eine Entscheidung ist wirklich alternativlos

Gestaltung wird umso aufwendiger, je selbstbewusster Bürger für ihre Rechte eintreten, sei es im Kampf gegen Fluglärm, gegen Stromleitungen, gegen Gütertrassen, für Umgehungsstraßen oder gegen Wölfe. Jeder dieser Widerstände ist Ergebnis eines Zielkonflikts, und ab hier wird es für die Politik ungemütlich. Denn es gibt keine Entscheidung, die nicht in einen solchen Konflikt mündet: Wenn Deutschland mehr Wildnis und damit mehr Wölfe wagt, gibt es auch mehr Probleme mit gerissenen Schafen und gesichteten Wölfen. Wenn mehr Windparks zur See entstehen sollen, braucht es mehr Leitungen. Wenn mehr Güter die Straßen meiden sollen, geht das nicht ohne mehr ratternde Züge und neue Bahnstrecken. Wenn Daten zum Gut des 21. Jahrhunderts werden, gerät deren Schutz in Gefahr. Aber wer redet schon gern über die Verlierer, über Probleme, über die Haken und Ungewissheiten?

Es ist die Diskussion jenseits der Bilder aus dem Eis, der schwierigere Teil. Aus Sicht einer Regierung ist der Idealzustand die "Win-win-Situation". Eine Entscheidung, die nur Gewinner kennt, wäre tatsächlich alternativlos. Leider gibt es nicht viele dieser Gewinner-Situationen; jedenfalls unendlich viel weniger, als Politik gern suggeriert. Die Leidtragenden merken das häufig erst, wenn Entscheidungen schon gefallen sind. Wenn sich in der Vergangenheit sogenannte "Wutbürger" gegen Stromtrassen oder den Bahnhof Stuttgart 21 erhoben, dann auch, weil sie ihre Verliererschaft erst merkten, als die Planungen schon weit fortgeschritten waren. Vollendete Tatsachen empfinden selbstbewusste Bürger als Überrumpelung: Sie fühlen sich um ihre Mitsprache betrogen.

Wer Menschen "mitnehmen" will, braucht Haltung, Erklärung und Aufrichtigkeit

Und um selbstbewusste Bürger geht es: Als Soziologen später das Phänomen der Wutbürger untersuchten, kamen sie unter anderem auf biografische Ursachen: Wer sich heute mit den Folgen politischer Entscheidungen auf sein eigenes Leben befasst, ist häufig schon durch die Schule verschiedener Bürgerinitiativen gegangen, mindestens aber dadurch beeinflusst, dass andere Entscheidungen nicht einfach hingenommen haben - sei es in Universitäten, in der Friedensbewegung, in örtlichen Initiativen. Und an Freitagen wächst gerade eine Schülergeneration heran, die sich mit schönen Worten nicht abspeisen lässt, die nach Antworten verlangt. Sie alle erwarten Haltung, Erklärung, Aufrichtigkeit. Wer Menschen wirklich "mitnehmen" will, der braucht diesen Dreiklang. Er ist das Fundament gestaltender Politik.

Zur Aufrichtigkeit gehört, Zielkonflikte offen zu benennen. Klimapolitik? Das verheißt eine lebenswerte Zukunft, Unabhängigkeit von fossilen Importen, eine sauberere Umwelt, neue Jobs. Aber es bedeutet eben auch einen nie dagewesenen Umbau von Industriegesellschaften, mit Unsicherheit für die Betroffenen, mit zusätzlichen Kosten für die Gesellschaft, mit ungewissen Auswirkungen im globalen Wettbewerb der Groß-Emittenten. Dass Angela Merkel irgendwann den roten Parka an den Nagel gehängt hat, dann auch deshalb: Diesen Konflikt wollte sie nicht aushalten, auch in der eigenen Partei. Eine offene - und öffentliche - Debatte darüber, wie Klimaschutz konkret aussehen soll und was es für Gesellschaft und Volkswirtschaft bedeutet, hat es in diesem Land nie gegeben. An diesem Defizit leidet die Klimapolitik bis heute.

Doch genau um diese Debatten geht es bei allen Fragen, die auf Widerstand stoßen: Welches Ziel verfolgen wir, aus welchen Gründen? Was gibt es zu gewinnen, was zu verlieren? Wer hilft den Verlierern? Es sind gesellschaftliche Fragen, die auch von einer Gesellschaft - oder den betroffenen Gruppen der Gesellschaft - diskutiert werden müssen. Nichts anderes ist auch der "grand débat", den Emmanuel Macron nach den Protesten der Gelbwesten angestoßen hat, die große Debatte über die Zukunft Frankreichs. Macron hat viel in die Erklärung seiner Politik investiert. Aber er hätte sich manchen Protest erspart, hätte das Land diese Debatte vorher geführt.

Das Beispiel Klima lässt sich herunterbrechen, etwa auf die Energiewende. Auf der abstrakten Ebene ist die eine ziemlich klare Sache, wer hat schon etwas gegen saubere Energie, ohne CO₂ und Atommüll. Schwierig wird es überall da, wo die Energiewende sichtbar wird: Entlang von Stromautobahnen, zunehmend auch bei neuen Windparks. Doch der Zielkonflikt Landschaft gegen saubere Energie spielte lange in Debatten keine Rolle. Und "die Energiewende ist gut" ist kein Argument. Sie ist auch nicht alternativlos - nur sind bessere Alternativen nicht in Sicht. Jedenfalls nicht, wenn man aus schmelzenden Eisbergen und geborstenen Reaktoren die naheliegenden Schlüsse zieht.

Man kann Windräder und Stromleitungen hässlich finden und trotzdem für saubere Energie sein

Das aber muss Politik erklären: Denn wo immer sich Verlierer bemerkbar machen, sind es die, denen vorher keiner zugehört hat, und denen niemand das Ziel erklärte. Als dieser Tage Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger eine Arbeitsgruppe mit allen möglichen "Akteuren" über die Energiepolitik beraten ließ, da verlangten die unter anderem ein "klares Bekenntnis der Staatsregierung". Das Protokoll steht online, jeder kann es nachlesen. "Eine Marschroute und engagierte Ziele werden gefordert", steht darin zu lesen. In der großen Koalition in Berlin beschäftigt sich gerade eine "AG Akzeptanz" mit Folgen der Energiewende. Eigentlich hätte sie bis zu diesem Wochenende fertig sein sollen, aber daraus wird wohl nichts. Die Teilnehmer, allesamt Abgeordnete, hatten alle möglichen Fachleute angehört. Doch als sie beginnen sollten, selber Schlüsse zu ziehen, begann der Streit. Manche wollen die Energiewende beerdigen und verweisen auf mangelnde Akzeptanz. Andere wollen um beides kämpfen. Das Schema dahinter kennzeichnet nicht nur den politischen, sondern auch den gesellschaftlichen Diskurs in diesem Land: Er kennt in vielen Fragen nur Schwarz oder Weiß, Gegner und Befürworter, Chancen oder Gefahren. Doch die wenigsten Fragen lassen sich so einfach verorten. Man kann Windräder und Stromleitungen hässlich finden und trotzdem für saubere Energie sein. Man kann die Natur lieben und dennoch Angst vor dem Wolf haben. Nicht selten spalten solche Konflikte schließlich auch den Bürger selbst: Wenn er gegen Fluglärm oder für besseres Klima kämpft und trotzdem mit dem Flieger in die Ferne aufbricht. Oder wenn er regionale Produkte toll findet, an der Kühltheke aber nach dem Preis entscheidet.

Nichts ist alternativlos, über Alternativen lässt sich streiten. Jede davon kennt Gewinner und Verlierer. Doch eine Entscheidung werden die Verlierer nur dann akzeptieren können, wenn in der Debatte auch die Grautöne zur Sprache kamen: die Haken an der Sache. Was alles nichts daran ändert, dass in einer Demokratie am Ende Mehrheiten entscheiden. Es wird auch künftig Menschen geben, die Dinge "not in my backyard", nicht in ihrem Garten haben wollen, und trotzdem damit leben müssen. Aber dauerhafte Entscheidungen, die nicht nach der nächsten Wahl wieder umgeworfen werden, brauchen eben neben der Mehrheit auch ein Fundament: aus Erklärung, Debatte, Aufrichtigkeit.

Im Eis haben Angela Merkel und Sigmar Gabriel auf so ein Fundament hingearbeitet, ohne darauf aufzubauen. Die vorige Bundesregierung versuchte, einen Klimaschutzplan unter Beteiligung von Bürgern zu erarbeiten. Doch was die Bürger empfahlen, strichen die Minister hinterher wieder raus; vieles ging ihnen zu weit. Nun soll sich ein Klimakabinett der Sache annehmen. Ob es wieder nur Show wird?

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