Karrieren:Politische Wissenschaft

Keine andere Disziplin genießt bei Politikern und Medien so große Aufmerksamkeit. Aber wie viel Einfluss haben Ökonomen wirklich?

Von Jan Willmroth

Der Chef sei den ganzen Tag in Besprechungen, lässt ein Mitarbeiter ausrichten, aber vielleicht rufe er ja trotzdem zurück. Kaum eine Stunde später klingelt das Telefon, und innerhalb von zehn Minuten gibt Marcel Fratzscher druckreif und fachlich fundiert Auskunft. So ist das heute, wenn man den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) anruft und von ihm eine Einschätzung zur Griechenland-Krise, zur Geldpolitik der EZB oder zu seiner Lieblingsfrage möchte, warum es in Europa an Investitionen mangelt.

Keine andere Wissenschaft erreicht in Medien und Politik derart viel Aufmerksamkeit wie die Ökonomie, und Fratzscher hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, mehr davon auf sich zu vereinen als die meisten seiner Kollegen. Wer sich mit der Frage beschäftigt, was den Marktwert eines Ökonomen heute ausmacht, landet schnell bei ihm; und bei der Erkenntnis: Den einen Marktwert gibt es nicht. Während manche besonders in der Forschung glänzen, fallen andere Wirtschaftswissenschaftler vor allem durch politische Äußerungen und ihre Rolle als Politikberater auf. Einigen, auch, Fratzscher gelingt beides.

Vor seinem Wechsel an die Spitze des Berliner Instituts saß er in Frankfurt, im Turm der Europäischen Zentralbank, und leitete dort still die Abteilung für internationale wirtschaftspolitische Analysen. Ein einflussreicher Posten, aber ohne öffentliche Präsenz. Allenfalls in Fachkreisen war der Forscher einigen bekannt, öffentliche Äußerungen gehörten nicht zum Job, kein Wirtschaftsminister fragte ihn um Rat.

Heute ist Fratzscher ständig präsent, fast täglich steht sein Name in Zeitungen und Magazinen, er redet im Radio und Fernsehen und berät die Politik. Zugleich führt er das größte Wirtschaftsforschungsinstitut der Republik und forscht noch selbst. Außer Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut wird kein Ökonom häufiger in deutschen Medien zitiert. Danach gefragt, welcher Wissenschaftler derzeit den größten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik habe, wählen Kollegen ihn auf Platz zwei.

Karrieren: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Eine außergewöhnliche Ökonomen-Karriere - und ein besonders gutes Beispiel, anhand dessen sich die Frage klären lässt, was Einfluss eigentlich bedeutet. Wie viel gestalten Wirtschaftswissenschaftler tatsächlich mit? Und wie wird aus einem exzellenten Forscher ein omnipräsenter Wirtschaftsexperte?

Es zeigt sich, dass unter den politisch prominentesten Wissenschaftlern stets überwiegend Ökonomen vertreten sind. Bert Rürup, 71, beispielsweise, einst Wirtschaftsweiser, hat einen beispiellosen Werdegang als politischer Berater hinter sich, der in seiner Rolle als Vorsitzender der nach ihm benannten Kommission gipfelte. Rürup war wesentlich an der Rentenreform während der Regierung Schröder beteiligt. Indes: Ein international anerkannter Spitzenforscher war er nie.

Es gibt wenige so bekannte Namen, und doch gibt es viele Rürups. Große wie kleine Wirtschaftsforschungsinstitute, Gremien wie die Monopolkommission und der Sachverständigenrat, Bundestags-Kommissionen: Überall sitzen Wirtschaftswissenschaftler an wichtigen Schaltstellen und beraten die Politik, mal mit Auftrag, mal ungefragt, immer mit einer besonderen Verantwortung.

Gebhard Kirchgässner hat sich mit dieser Verantwortung oft auseinandergesetzt. Der 67-Jährige ist Direktor des Schweizerischen Instituts für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung, seit Langem berät er die Schweizer Regierung in Wirtschaftsfragen. Man könne zwar feststellen, wer öffentlich gehört wird und wem Politiker und Beamte laut Umfragen Einfluss zubilligen, sagt Kirchgässner. Wie einflussreich Ökonomen als politische Berater generell sind, lasse sich aber nicht bemessen. "Wenn man ein Gutachten schreibt", fragt er, "wie soll man wissen, ob die Politik ohne dieses Gutachten oder mit einem anderen nicht genauso entschieden hätte?" Außerdem ist nicht jeder Wirtschaftsberater in wichtiger Funktion auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Wer weiß schon, was genau Lars-Hendrik Röller macht, der wirtschafts- und finanzpolitische Berater der Bundeskanzlerin, wenn nicht gerade G-7-Gipfel ist? In Talkshows sitzt er jedenfalls nicht.

Gesprächsrunden im Fernsehen und ökonomische Spitzenforschung scheinen heute weiter auseinander zu liegen denn je. Der Düsseldorfer Ökonom Justus Haucap und sein Kollege Michael Mödl schrieben dazu 2013 in einer empirischen Untersuchung, wissenschaftliche Spitzenforschung und wirtschaftspolitische Beratung fielen selten zusammen. Wer viel und prominent veröffentlicht, berät also eher nicht. Wer viel im Fernsehen auftritt und Gastbeiträge für Zeitungen schreibt, hat wenig Zeit für Artikel in Fachjournalen. In diesen stehen zudem selten Dinge, die für die aktuelle Realpolitik relevant sind. Gert Wagner, als Interims-Chef des DIW Fratzschers direkter Vorgänger und langjähriger Politikberater, sagt: "Wissenschaftliche Exzellenz begründet - völlig zu Recht - noch keinen Einfluss außerhalb der akademischen Welt." Die Liste der Wirtschaftsnobelpreisträger zeigt, was er meint: Sie enthält zahlreiche unbekannte Forscher, die nie politisch auftraten und deren Erkenntnisse bloß für einen Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften relevant sind. Mit Blick auf die aktuelle Debatte um die Lösung der Staatsschuldenkrise seien plausible und praktikable Lösungen sowie logische Schlüsse gefragt, hat Kirchgässner erkannt, nicht aber notwendigerweise die neuesten Erkenntnisse der Ökonomik.

24 deutsche Ökonomen, auf die es ankommt

In der Volkswirtschaftslehre findet ein Generationswechsel statt. Die SZ stellt immer dienstags und donnerstags die neuen Köpfe vor: "24 deutsche Ökonomen, auf die es ankommt" - heute Teil 10. Bedingung: Die Porträtierten müssen unter 50 Jahre alt sein. Und die Besten ihres Fachs. Darunter sind in der Öffentlichkeit bekannte Namen, aber auch sehr kompetente Wissenschaftler, die vor allem in der Fachwelt einen Ruf haben. Alle Folgen: sz.de/deutsche-oekonomen

Wer politisch beraten will, muss mehr können als nur rechnen: Er muss die politischen Realitäten kennen und rechtliche Rahmenbedingungen einschätzen können. Für Marcel Fratzscher ist "gute Forschung nicht nur der Erkenntnisgewinn per se, sondern auch die Kommunikation, das Teilen dieser Erkenntnis mit der Gesellschaft". Die Wissenschaft erhalte viel Geld von der Gesellschaft und habe deswegen, das sagt er oft, eine Bringschuld.

Sehr viele Wissenschaftler sind heimliche Politikverbesserer

Zudem kommt es eher selten vor, dass Spitzenforscher auch in die Öffentlichkeit drängen. Überhaupt gehören Ökonomen, die politische Berater werden wollen, nicht zur Mehrheit. Politik muss man mögen, Öffentlichkeit muss man wollen. Allerdings: Anders als vor einigen Jahrzehnten kommt heute niemand mehr an herausgehobene Posten und Institutsleitungen, der nicht auch als Forscher nach aktuellen Maßstäben herausragt. Fratzscher hat das genauso bewiesen wie der künftige Ifo-Chef Clemens Fuest und Merkel-Berater Röller. Denjenigen, die einflussreiche Positionen anstreben, unterstellt Gert Wagner zudem einen gewissen missionarischen Eifer. "Sehr viele Wissenschaftler sind heimliche Weltverbesserer", sagt er.

Nicht zu verachten sei auch das Eigeninteresse der Ökonomen, ihre eigenen Themen und Forschungsgebiete als gesellschaftlich wichtig anerkannt zu wissen. Plausible Vermutungen sind das, zumal Wagner nicht der einzige ist, der so denkt. Kirchgässner schrieb in einem Aufsatz vor zwei Jahren: Gerade die Ökonomie - also jene wissenschaftliche Disziplin, die allen Menschen unterstellt, von Eigeninteressen gesteuert zu sein - behaupte, selbst überhaupt keine Eigeninteressen zu haben, etwa private Wünsche bezüglich wirtschaftspolitischer Gestaltung. "Wir haben doch alle politische Vorstellungen davon, wie die Welt sein sollte", sagt Kirchgässner. Das solle sich auch jeder Wissenschaftler eingestehen. "Ein Wissenschaftler darf nie das Ziel verfolgen, die Politik beeinflussen zu wollen", sagt Marcel Fratzscher dazu. Informieren, nicht beeinflussen.

Ob er nun einer dieser heimlichen Weltverbesserer ist, oder nicht: Debatten prägen möchte er wohl schon, und seine Meinungen und Erkenntnisse werden von vielen wichtigen Menschen geschätzt - auch in der Wissenschaft. An neun Fach-Veröffentlichungen hat er 2015 bereits mitgewirkt; einige davon erschienen in internationalen Top-Journalen.

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