Süddeutsche Zeitung

Wirtschaftssysteme:Warum am Ende immer alles auf den Kapitalismus hinausläuft

Auch die ärgsten Feinde des Kapitalismus machen irgendwann Geschäfte mit ihm. Warum eigentlich?

Von Jan Willmroth

Eine Karriere wie die von Joscha Schmierer könnte es im heutigen Deutschland wohl nicht mehr geben. Einst prototypischer Antikapitalist, war Schmierer Mitbegründer des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland, einer der bedeutendsten und größten deutschen K-Gruppen der Siebzigerjahre. Deren Programm war unmissverständlich. Im Gründungsjahr 1973 stand darin: "Solange die Bourgeoisie über bewaffnete Formationen zur Verteidigung des kapitalistischen Eigentums verfügt, wird das Proletariat die politische Macht mit Waffengewalt erkämpfen müssen." Bumm. Revolution als die einzig logische Reaktion auf die Unterdrückung durch das Kapital.

Wie so viele aus seiner Generation ließ Schmierer die revolutionäre Agitation irgendwann sein. Kaum jemand hat den von Rudi Dutschke geprägten "Marsch durch die Institutionen" besser gemeistert als er. Zwischen 1999 und 2007 arbeitete Schmierer im Planungsstab des Bundesaußenministeriums, zunächst unter Ex-Revolutionär Joschka Fischer, später unter Frank-Walter Steinmeier, und war dort beispielsweise zuständig für Grundsatzfragen der Europapolitik und "Mittelmeer". Anfangs Besoldungsstufe BAT 1, damals etwa 10 000 Mark brutto. Einst stand Schmierers Name im Verfassungsschutzbericht, später plädierte er staatstragend für eine pragmatische Zusammenarbeit mit den erzkapitalistischen USA.

Nie waren Empörung und Konzeptlosigkeit gleichzeitig so groß

Die Zeit, in der Ministerialräte solche Biografien haben, geht allmählich zu Ende. Gegen die Systemgegner der 68er-Generation wirken die schwarz vermummten Blockupy-Demonstranten, die noch im vergangenen Jahr marodierend durchs Frankfurter Bankenviertel zogen, wie irrlichternde Steinewerfer, die den Konflikt mit der Polizei suchen, aber kein Konzept mehr für die Veränderung der Gesellschaft haben. Das ist ein entscheidender Unterschied zu früher.

Der Philosoph Axel Honneth beschreibt diese Konzeptlosigkeit als das "Versiegen utopischer Energien". Zwar sei die Empörung über die soziale Ungerechtigkeit, den global entfesselten Kapitalismus noch nie so groß gewesen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber, so schreibt er: "Man weiß zwar ziemlich genau, was man nicht will und was an den gegenwärtigen Sozialverhältnissen empörend ist, hat jedoch keine auch nur halbwegs klare Vorstellung davon, wohin eine gezielte Veränderung des Bestehenden sollte führen können." Wir sind die 99 Prozent! Wir kämpfen gegen etwas, aber wofür kämpfen wir denn?

Der Sozialismus ist heute vor allem eine intellektuelle Hoffnung

Ein sozialistisches Gesellschaftsmodell alter Prägung wünschen sich jedenfalls nur noch wenige. Seit dem Aussterben revolutionärer Bewegungen nach der Wende hat der Kapitalismus auch seine ärgsten Feinde freundlich fest umarmt und integriert. Der Sozialismus ist heute, frei nach Honneth, nurmehr vor allem eine intellektuelle Herausforderung, die den Kapitalismus ständig begleitet. Diese Begleitung kann heilsam sein, erinnert sie doch daran, dass der Grundgedanke der Solidarität und das Streben nach Gleichheit Menschen zufriedener macht. Sie fördert einen gesellschaftlichen Konsens, eine Zustimmung zum System, die das diffuse Gefüge der individuellen Freiheit stabilisiert. Sie ermahnt, auch die Verlierer des kapitalistischen Wirtschaftens nicht zu vergessen, menschlich zu sein.

Schon der große Pessimist Joseph Schumpeter sah voraus, dass der Kapitalismus in der Lage sein würde, den allgemeinen Wohlstand derart zu steigern, dass eine umfassende Sozialgesetzgebung erst möglich wurde. Demnach schafft der Kapitalismus selbst die Möglichkeit, den Wohlstand auch gerechter zu verteilen. Entgegen vielen sonst beängstigend treffenden Prophezeiungen ist eine wesentliche Vorhersage Schumpeters bis heute nicht eingetreten: "Kann der Kapitalismus weiterleben? Nein, meines Erachtens nicht", schrieb er in seinem berühmtesten Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie".

Aller Empörung über die mutmaßlich wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zum Trotz haftet dem Sozialismus inzwischen etwas zutiefst Romantisches an, das belegt nicht zuletzt die Zahl der vielen Jetzt-noch-schnell-nach-Kuba-Urlauber im Bekanntenkreis. Die Anziehungskraft dieses Freilichtmuseums kommunistischer Isolation ist verständlich, zumal bei Angehörigen einer Generation, die kommunistische Systeme nicht mehr unbedingt selbst als freiheitsfeindlich erlebt hat.

Menschen, die sich in der Jugend zwar rote Sterne auf ihre Rucksäcke nähten, aber fest mit dem System verwachsen sind, gegen das sie womöglich einmal zu kämpfen glaubten. Das sind die Feinde, die sich das kapitalistische System Schumpeter zufolge selbst schafft.

Die Grundeinkommensdebatte ist ein Ruf nach Sorglosigkeit

Die Begleitfunktion des Sozialismus führt auch zu neuen Debatten, wie jüngst zu jener über das bedingungslose Grundeinkommen. Eine Quelle dieser Idee ist der Wunsch, es möge für alle gesorgt sein, eine weitere der Reiz, in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung eine sozialistische Idee ohne Verzicht auf demokratische Errungenschaften umsetzen zu können. Revolution ohne Revolution.

"Reichtum für alle!", rief es schon vor Jahren von den Wahlplakaten der Linken, und wer könnte dem widersprechen? Die Verlockung des Grundeinkommens nimmt ihren Ursprung in der tiefen Sehnsucht nach Sorglosigkeit, nach einem Leben, das nicht durch Erwerbsarbeit und Für-sich-selbst-sorgen-Können determiniert ist. Ein Leben, ein wenig mehr Dolce Vita, in dem man nicht immer nur arbeitet, sich viel mehr all den Dingen widmet, die mehr Freude und Sinn bereiten als der Arbeitsalltag, und zwar in dem Wissen, dass die anderen erst einmal das Gleiche bekommen.

Dieser Hang zum Romantisieren beantwortet aber noch nicht, warum der Kapitalismus irgendwann auch seine schlimmsten Feinde milde stimmt. Der menschliche Hang zum Opportunismus mag eine Erklärung sein, aber keine ausreichende, es ist vermutlich vielmehr so: Noch hat kein System das Versprechen persönlicher Freiheit so weitreichend einlösen können wie das kapitalistische. Friedrich von Hayek, dieser häufig verkannte Ökonom, schrieb in "Der Weg zur Knechtschaft" treffend: "Wenn unsere komplexe Gesellschaft nicht untergehen soll, gibt es keine andere Möglichkeit, als sich entweder den anonymen und anscheinend irrationalen Kräften des Marktes zu unterwerfen oder aber einer ebenso unkontrollierbaren und deshalb willkürlichen Macht anderer Menschen."

Solange sich die Empörung ohne utopische Energie entlädt, wird die Entscheidung für die anonymen und bisweilen grausamen Kräfte des Marktes nicht mehr revidiert. Und der Kapitalismus wird weiterhin die Symbole der sozialistischen Vergangenheit zu Produkten degradieren, zur bloßen Handelsware, die nostalgische Sehnsüchte bedient.

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SZ vom 25.06.2016/vit
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