Kapitalismus in der Krise:Erinnerungen an alten Glanz

Die einflussreiche Mont Pèlerin Society galt einst als Denkfabrik des Neoliberalismus. Heute ist ihr Treffpunkt, das "Hotel du Parc", jedoch verwaist.

Gerd Zitzelsberger

Der Putz ist grau geworden und stumpf das Rotbraun der Fensterläden. Erahnen kann man noch den alten Glanz. Doch die Empfangshalle ist verrammelt, und Licht brennt nur in einem Raum. "Ich bin die letzte, und eine Woche später hätten Sie auch mich nicht mehr angetroffen", sagt Maria Teresa de Abreu. Zusammen mit ihrem Mann war sie bis vor ein paar Wochen die Eigentümerin des "Hotel du Parc" am Mont Pèlerin. Einst war es ein herrschaftliches Haus mitten in der Idylle: Stillgelegte Fließbänder, leere Montagehallen oder Halden unverkäuflicher Autos gibt es weit und breit nirgends. Stattdessen präsentiert sich dort, hoch über dem Genfer See, über steilen Weinhängen und Obstgärten, die Schweiz wie aus dem Bilderbuch: Der rechte Ort, um über Freiheit zu sinnieren.

Kapitalismus in der Krise: Erhard, Mitglied der MPS, gilt als Sinnbild des Wirtschafts- wunders. Die damalige Blütezeit des Vereins ist jedoch längst vorbei.

Erhard, Mitglied der MPS, gilt als Sinnbild des Wirtschafts- wunders. Die damalige Blütezeit des Vereins ist jedoch längst vorbei.

(Foto: Foto: AP)

An diesem Platz gründeten an Ostern 1947 die späteren Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und Milton Friedman sowie 35 ihrer Gesinnungsfreunde aus Wissenschaft und Publizistik die Mont Pèlerin Society (MPS). Kaum einer kennt den Verein; er agiert lieber tief im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch er war gewissermaßen das Gewächshaus des Neoliberalismus, der in den vergangenen Jahrzehnten der halben Welt seinen Stempel aufgedrückt hat.

Dieses wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzept kommt in unterschiedlichen Varianten daher. Aber gemeinsamer Nenner der MPS-Mitglieder sind ein paar simple Postulate: Man müsse die Staatstätigkeit, die Macht der Gewerkschaften und wirtschaftlicher Monopole klein halten, das Netz der sozialen Sicherheit sehr tief hängen, Wettbewerb und persönliche Freiheit gegenüber dem Staat hoch zu halten.

Lebendige Denkfabrik

Um das Hotel du Parc steht es inzwischen schlecht - und um die Mont Pèlerin Gesellschaft nicht viel besser. Die Neoliberalen müssen fürchten, ähnlich aus der Mode zu kommen wie ihre Gründungsstätte. Jahrzehntelang hat ihnen jeder bessere Manager nachgebetet, dass der Staat sich aus der Wirtschaft heraushalten solle. Doch im zweiten Jahr der internationalen Finanzkrise wünschen Banker und mancher Industrielle nichts mehr, als dass der Staat eingreift und ihr Unternehmen aus dem Strudel zieht.

Vor zehn Jahren rühmte die britische Sonntagszeitung Sunday Times die Mont Pèlerin Society mit ihren 500 bis 600 Mitgliedern noch als "einflussreichste Denkfabrik des zwanzigsten Jahrhunderts". Acht ihrer Mitglieder erhielten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - wobei es dabei vermutlich nicht von Schaden war, dass Erik Lundberg, langjähriges Mitglied und zeitweise Vorstand des Preiskomitees, selbst der MPS angehörte.

Grundstein für das Wirtschaftswunder

Seinen ersten Sieg verbuchte der Verein in Deutschland: Der spätere Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard hob 1948, ein gutes Jahr nach dem Treffen im Hotel du Park, Preisbindungen und Zwangsbewirtschaftung auf. Er brachte damit die drei westlichen Besatzungszonen auf den Weg der Marktwirtschaft und legte den Grundstein für das Wirtschaftswunder. Auf ihre Fahnen schreibt sich das die MPS, weil zwei Berater Erhards, Walter Eucken und Wilhelm Röpke, bereits bei der Gründung mit von der Partie waren, und Erhard selbst der Gesellschaft später ebenfalls beitrat.

MPS-Mitglieder waren, so heißt es in einer wohlmeinenden Dissertation, "maßgeblich daran beteiligt, sozialistische und keynesianische Ideen zu diskreditieren". Zweifellos wurden die neoliberalen Revolutionen in Großbritannien und den USA unter Margret Thatcher und Ronald Reagan zu einem guten Teil wissenschaftlich, publizistisch und politisch in der Mont Pèlerin Society auf den Weg gebracht. Beide Revolutionen gelten in MPS-Kreisen rundum als Erfolg. Dass Reagan die Staatsverschuldung in die Höhe schnellen ließ und Thatchers Radikalität Hunderttausende von Briten in Armut und Not stürzte, bekümmerte kaum einen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso die Mont Pèlerin Gesellschaft in Widersprüche verwickelt ist.

Erinnerungen an alten Glanz

Das Wirken der Mont Pèlerin Gesellschaft hat die Politik vieler Länder in den vergangenen Jahrzehnten beeinflusst. Aber wenige Staaten haben sich dem Neoliberalismus so stark verschrieben wie Island. "Seit 1991 wird ein umfassendes Programm der Liberalisierung, Privatisierung, Stabilisierung und Steuersenkungen durchgeführt", lobte die Mont Pèlerin Gesellschaft vor drei Jahren. An dem Kurs hat sich nichts geändert - bis das Land jetzt de facto in Konkurs ging.

Weites Netzwerk

Dieses Ergebnis war bei Milton Friedman, noch immer die Symbolfigur der Denkschule, nicht vorgesehen. Seine zentrale Begründung für den Neoliberalismus hatte Friedman mit Wildwest-Bescheidenheit in einem Halbsatz komprimiert: "Weil er funktioniert." Das Scheitern der neoliberalen Konzeption an der Realität ist nicht der einzige Grund für den leisen Niedergang der Mont Pèlerin Gesellschaft. Sie hat ohnehin nichts mehr mit dem kleinen wissenschaftlichen Diskussionszirkel der Gründerzeit gemein. Zu den Jahrestagungen kommen heute üblicherweise gut 400 Mitglieder und glaubensstarke Gäste.

Der Verein fungiert vor allem als Netzwerk von Leuten ähnlicher ideologischer Ausrichtung - gemeinhin nennt man das "Seilschaften". Zudem soll der Verein "die Argumentationsketten bereitstellen", sagt der Bayreuther Soziologie-Professor und MPS-Vorstandsmitglied Michael Zöller. "Explosionsartig gestiegen", so Zöller, sei die Präsenz amerikanischer Teilnehmer. Vor allem handelt es sich dabei um Mitarbeiter so genannter Denkfabriken. In Wahrheit sind das oft simple, aber finanzstarke Lobby-Gruppen. Eine davon ist die Heritage Foundation in Washington, die für niedrige Steuern kämpft, eine andere das Cato Institute, das im Auftrag seiner Finanziers gegen jede Klima-Politik ficht.

Die Mitarbeiter dieser Institutionen haben "nicht notwendigerweise die akademisch ausgefeilteste Argumentation" auf Lager, spöttelt MPS-Mitglied Michael Wohlgemuth vom Freiburger Walten Eucken Institut. Aber sie dominieren mehr und mehr die Mont Pèlerin Gesellschaft. "Ein bisschen problematisch" sei die Unterwanderung, bekennt der emeritierte Kölner Professor Christian Watrin, der in den Jahren 2000 bis 2002 als MPS-Präsident amtierte, mit großväterlicher Milde.

Beratungen im Verborgenen

Das Cato Institute hat es im September sogar geschafft, einen seiner Mitarbeiter zum Präsidenten wählen zu lassen. Und selbstverständlich gehört es in der Folge jetzt zum Kernbestandteil neoliberalen Gedankenguts, dass Klimaerwärmung doch überhaupt kein Problem sei und keiner staatlichen Gegenmaßnahmen bedürfe.

Zu den Widersprüchen der Mont Pèlerin Gesellschaft gehört, dass sie sich als Hüterin der Freiheit versteht, aber beispielsweise von Pressefreiheit eher wenig hält: Wer sie finanziert und wie die Diskussionen laufen, wissen nur Mitglieder - außenstehende Journalisten sind zu den illustren Tagungen nicht zugelassen, und Diskussionsprotokolle gibt es erst gar nicht.

Durchgesickert ist immerhin einmal, dass der kürzlich tödlich verunglückte österreichische Rechtsaußen Jörg Haider auch schon eingeladen war. Erahnen lässt sich zudem, wie der eine oder andere Diskussionsbeitrag in dieser Gelehrtenrunde aussehen mag. "Ich brauche Eure Subventionen und Transferzahlungen nicht; ich will nicht Euer Kinder-, Mutterschafts- und Sterbegeld, nicht Eure tausend Almosen und milden Gaben, die Ihr mir vorher aus der Tasche gezogen habt. Aber: Lasst mich dafür auch in Frieden. Schickt Euer Millionenheer von Faulärschen und parasitären Umverteilern nach Hause...", schreibt MPS-Mitglied Roland Baader in einem seiner Bücher.

Auf dem Mont Pèlerin wusste Hotelbesitzerin de Abreu, wann der Zeitpunkt gekommen war, zu verkaufen und damit einen Schlussstrich zu ziehen. Mit der Mont Pèlerin Gesellschaft wird man es noch lange zu tun haben.

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