Kapitalismus in der Krise:Der Fluch der guten Ideen

Lesezeit: 6 min

Ob Tulpenzwiebel-Spekulation oder Internet-Krise: Der Kapitalismus war gegen Verwerfungen noch nie gefeit. Das Gute daran: Aus früheren Zusammenbrüchen lässt sich lernen.

Nikolaus Piper

Einer der heimlichen Helden der Wirtschaftswissenschaft heißt Benjamin Graham. Der heute in Deutschland weitgehend unbekannte Ökonom unterrichtete fast dreißig Jahre lang, von 1928 bis 1957, an der Columbia-Universität in New York. Er war aber nicht nur Professor, sondern auch ein überaus erfolgreicher Investor. Seinem Schüler Warren Buffett, heute der reichste Mann der Welt, gab er diesen Satz mit auf den Weg: "Sie können viel mehr Ärger mit einer guten Idee bekommen als mit einer schlechten."

Was heute wackelige Schrottpapiere sind, waren vor 150 Jahren Eisenbahnen. Damals bekam die Ohio Life Insurance and Trust Company erhebliche finanzielle Probleme, weil sie in marode Eisenbahnen investiert hatte.Im Bild zu sehen: Die Lübeck-Büchener Eisenbahn aus dem Jahr 1939. (Foto: Foto: dpa)

Der Satz enthält die denkbar beste und kürzeste Krisentheorie des Kapitalismus. Etwas ausführlicher formuliert: Die Kräfte des Marktes reichen aus, um Schrott auszusondern. Wenn die Kunden ein Produkt nicht mögen, dann kaufen sie es eben nicht. Gute Ideen dagegen setzen sich durch. Dass auch diese Ideen schlechte Seiten haben, merkt man oft erst, wenn es zu spät ist. "Es liegt eine Gefahr darin, wenn man von den Erfahrungen der Vergangenheit auf die Ergebnisse der Zukunft schließt", schrieb der Ökonom John Maynard Keynes bereits 1928.

Es war eine gute Idee, die am Beginn der verrücktesten Spekulationsblase der Geschichte stand, der holländischen Tulpenzwiebel-Spekulation. Im 17. Jahrhundert wurden die Holländer durch den Überseehandel reich. Ein breites Bürgertum entstand, das sich schöne Häuser leisten konnte, die von ebenso schönen Gärten umgeben waren. Und in diese Gärten pflanzten sie Tulpen, damals noch eine Luxuspflanze. Einige Spekulanten kalkulierten so: Je reicher die Bürger, desto teurer die Tulpen - und begannen zu kaufen. Das war 1634. Tatsächlich begann der Preis zu steigen, was neue Nachfrager auf den Plan rief. Schließlich geriet das Land in einen Taumel. Wer immer Geld hatte, kaufte Tulpenzwiebeln zu horrenden Preisen. Fast mittellose Mägde und Knechte verschuldeten sich, um mitspekulieren zu können. Das ging solange, bis im Jahr 1637 ein Spekulant den erwarteten Preis nicht mehr erlöste. Die Blase platzte, und tausende Holländer büßten für ihren Leichtsinn mit bitterer Armut.

Börsianer vergessen das Risiko

Auch der Bau von Eisenbahnen war eine gute Idee. Die Züge ließen Raum und Zeit in zuvor undenkbarer Weise schrumpfen. Dass sich aber trotzdem nicht jede Bahnlinie zu jedem Kuhdorf lohnt, das mussten viele erst schmerzhaft bei den Börsenkrächen des 19. Jahrhunderts lernen.

Was früher die Eisenbahn war, ist heute das Internet. Eine ganze Generation wächst heran, die sich die Welt ohne Email, Google und YouTube nicht mehr vorstellen kann. Es bedurfte aber erst der Krise von 2000 und 2001, damit die Märkte realisierten, dass nicht jedes Geschäft funktioniert, bei dem ein "E" davorsteht. Und dass auch im Internet-Zeitalter eine Aktie überteuert ist, wenn man 250 Jahre braucht, um aus dem Gewinn deren Kaufpreis zu finanzieren. So geschehen bei EM.TV, einem der deutschen Star-Unternehmen der New Economy.

Schließlich gab es auch unter den Finanzinnovationen der letzten Jahre viele tolle Ideen. Zum Beispiel Wertpapiere, die man wie eine Versicherung gegen die Insolvenz eines Unternehmens einsetzen kann. Die Idee ist so gut, dass viele kluge Leute an der Wall Street glaubten, es gebe gar keine Risiken mehr, gegen die man Vorsorge treffen müsse und man mit Schulden fast alles machen könne. Dabei herausgekommen ist die schlimmste Krise seit achtzig Jahren.

Gute und schlechte Zeiten hat es seit Menschengedenken gegeben. Die sieben fetten und sieben mageren Jahre aus dem zweiten Buch Moses sind sprichwörtlich geworden. In Grimms Märchen setzen die Eltern von Hänsel und Gretel ihre armen Kinder im Wald aus, weil eine "große Teuerung" das Land heimsucht und der Vater "das tägliche Brot nicht mehr schaffen" konnte. Früher waren Notzeiten die Folge von Krieg, Missernten oder Naturkatastrophen. Mit Beginn des Kapitalismus lösten sich Krisen von solchen Ereignissen. Sie wurden zwar nicht schlimmer, wohl aber schwerer fassbar.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso Auf- und Abschwünge im Kapitalismus unvermeidbar sind.

Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel wütete in Irland die Kartoffelfäule. Die folgende Hungersnot kostete bis zu einer Million Menschen das Leben. Gleichzeitig brach in Großbritannien auch noch eine Spekulation mit Eisenbahnaktien zusammen, wodurch aus den Missernten eine gesamteuropäische Wirtschaftskrise wurde. Die war 1848 Hauptauslöser einer revolutionären Welle in Europa mit weit reichenden Folgen. Im Februar 1848 verfasste ein Rechtsanwalt aus Trier namens Karl Marx zusammen mit Friedrich Engels, einem Unternehmersohn aus Elberfeld, das "Manifest der Kommunistischen Partei", in dem das Ende des Kapitalismus vorausgesagt wurde.

Die nächste Krise folgte 1857 und sie hatte paradoxerweise etwas mit einem Friedensschluss zu tun. Im Jahr zuvor war der Krimkrieg zwischen England, Frankreich, der Türkei und Russland zu Ende gegangen. In der Folge kehrte russisches Getreide auf den europäischen Markt zurück - zu Lasten amerikanischer Importe. Das führte im Mittleren Westen der USA zu einem dramatischen Preisverfall, wodurch sich das Loch in der amerikanischen Leistungsbilanz vergrößerte. Um den Abfluss von Gold zu bremsen, erhöhten viele Banken ihre Zinsen (eine Notenbank gab es noch nicht).

Am 24. August 1857 musste die Ohio Life Insurance and Trust Company ihre Zahlungen einstellen; die Bank hatte in marode Eisenbahnen investiert. Dadurch brach das Vertrauen in das gesamte Bankensystem zusammen, ähnlich wie im September 2008 nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers. Es kam zur ersten Weltwirtschaftskrise, die neben den USA auch Europa und Lateinamerika erfasste.

Mörderische Dynamik

Auf- und Abschwünge sind im Kapitalismus unvermeidbar. Der Prozess der Wirtschaftsentwicklung gleicht einer "schöpferischen Zerstörung", wie es der Ökonom Joseph Schumpeter formulierte. Und der kann niemals reibungslos verlaufen.

Ob ein Abschwung sich aber zu einer schweren Krise auswächst, hat fast immer mit Politik zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die westlichen Industrieländer eine Phase beispielloser Prosperität. Die Instrumente der Konjunkturpolitik im Sinne von John Maynard Keynes und - in Deutschland - die Soziale Marktwirtschaft wirkten so gut, dass echte Rezessionen der Vergangenheit anzugehören schienen. Der Traum endete mit der ersten Ölkrise 1973. Die keynesianische Wirtschaftspolitik wurde mit der Kombination aus Stagnation und Inflation nicht mehr fertig.

Als nach 1982 die Inflation besiegt war und in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien marktwirtschaftliche Reformen wirkten, begann erneut eine Phase mit vergleichsweise milden Rezessionen. Der Börsenkrach vom 19. Oktober 1987 hinterließ kaum Spuren in der Realwirtschaft. Auch die amerikanische Bankenkrise der Jahre 1990 und 1991 verlief einigermaßen glimpflich. Diese Zeit der "großen Moderation", wie sie von Ökonomen genant wird, endete am 15. September 2008 mit der Pleite von Lehman Brothers.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso der politische Faktor beim Börsenkrach 1929 eine so wichtige Rolle gespielt hat.

Die Finanzmärkte hatten eine mörderische Dynamik entfaltet - auch weil die Politiker zu sehr auf deren Selbstregulierung gebaut hatten. Besonders wichtig war der politische Faktor bei der bisher schlimmsten Wirtschaftskrise der Geschichte, der Großen Depression von 1929 bis 1933. Der Börsenkrach vom 24. Oktober 1929, der Auslöser der Krise, war zwar schlimm, aber für sich genommen nicht katastrophal. Doch er fand in einem extrem gefährlichen politischen Umfeld statt. Im Versailler Vertrag hatten die Alliierten den Deutschen Reparationen aufgezwungen, die diese weder zahlen wollten noch auf Dauer konnten. Gleichzeitig verlangten die USA von ihren Verbündeten die Rückzahlung der Kriegsschulden, wozu diese ebenfalls nicht bereit waren. So kam es, dass sich Deutschland in Amerika das Geld leihen musste, um Reparationen an Frankreich und England zu zahlen.

Nach dem schwarzen Donnerstag 1929 brach dieses System zusammen, weil die Amerikaner panikartig ihr Geld aus Europa abzogen. Danach folgte ein politischer Fehler auf den anderen. Die Notenbank Federal Reserve schränkte die Geldversorgung ein, statt sie auszuweiten. Der Kongress in Washington beschloss das Smoot-Hawley-Gesetz, das hohe Schutzzölle für die US-Wirtschaft vorsah und den Welthandel zum Erliegen brachte. In Deutschland erhöhte Reichskanzler Heinrich Brüning die Steuern und senkte die Staatsausgaben, was den allgemeinen Preisverfall ("Deflation") verschärfte.

Aus der Geschichte lernen

Auch am Beginn der jetzigen Krise stand, ähnlich wie 1929, ein großes globales Ungleichgewicht. Die Volksrepublik China fördert das eigene Wachstum seit vielen Jahren durch eine unterbewertete Währung. Das Ergebnis dieser Politik sind riesige Überschüsse in der Leistungsbilanz und massive Ersparnisse, die nach Anlage suchen. Umgekehrt lebten die Vereinigten Staaten seit Jahren auf Pump, daher war die Regierung froh, dass ihr die Chinesen ihre Staatsanleihen abkauften. Die überdimensionierten Ersparnisse Chinas waren die wichtigste Ursache der Liquiditätsschwemme, die am Anfang der Weltfinanzkrise stand.

Der zweite Schuldige war US-Notenbank-Präsident Alan Greenspan, der die Leitzinsen viel zu spät erhöhte und sich weigerte, neue und gefährliche Finanzprodukte zu beaufsichtigen. Jetzt ist die Weltwirtschaft so schlimm dran wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die gute Nachricht dabei ist: Die Geschichte liefert genügend Material, um aus ihr zu lernen. Die Erfahrungen der dreißiger Jahre müssen sich heute nicht wiederholen.

© SZ vom 17.11.2008/ld - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: