Kanzlerin Merkel und die Wirtschaft:Die Wut der Bosse

Kehrtwende in 48 Stunden? Vertreter der deutschen Wirtschaft empören sich über die Volten der Bundesregierung in der Atompolitik - und fahren schwere Geschütze auf: Deutschlands Wohlstand sei in Gefahr.

Die deutsche Industrie hat ein Problem mit Kanzlerin Merkel: Sie hat zu wenig Respekt vor den Nöten und Sorgen der Unternehmen. Darum geißeln die Unternehmer nun den überstürzten Ausstieg aus der Kernenergie.

Pressekonferenz zum Gespraech zur weiteren Nutzung der Kernenergie

Kanzlerin Merkel hat die Konzerne gegen sich aufgebracht.

(Foto: dapd)

Eine vorschnelle Energiewende der Bundesregierung könne den Wohlstand in Deutschland gefährden, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Peter Keitel, dem Magazin Stern. "Ich halte es für sportlich, wenn man nach 48 Stunden eine fertige Meinung hat. Jeder täte gut daran, nicht schon Ergebnisse zu verkünden, sondern die Zeit zu nutzen, um ein belastbares Energiekonzept zu erarbeiten."

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mahnte, wegen der Abschaltung weiterer Atomkraftwerke könne es zu Stromausfällen kommen - was auch die Wirtschaft treffen würde. Die Ökoenergiebranche steht bereit, für die Atomkraftwerke in Deutschland einzuspringen: Mit Milliardeninvestitionen rüsten sich die Firmen für das atomfreie Energiezeitalter. "Wir müssen unglaublich aufpassen, dass in der Diskussion um die Atomenergie unser wirtschaftlicher Erfolg nicht unter die Räder kommt", sagte Keitel.

"Es darf nicht sein, dass jeder Mast umkämpft ist"

Die DIW-Ökonomin Claudia Kemfert sagte Handelsblatt Online, die ausreichende Versorgung der Volkswirtschaft mit Strom sei elementar. Ausfälle würden nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern auch das europäische Ausland in Mitleidenschaft ziehen. Sollten im Mai zusätzlich zu den derzeit abgeschalteten Kernkraftwerken weitere fünf Meiler wegen Revisionen vom Netz gehen, müssten vor allem Kohlekraftwerke, teils auch Gaskraftwerke aktiviert werden.

Deutschland werde dann mehr Strom importieren müssen. Anders werde es kaum möglich sein, den Strombedarf zu decken, sagte Kemfert. "Dies kann in der Tat zu Blackouts führen, was wiederum erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen hat." Siemens-Chef Peter Löscher forderte einen raschen Ausbau der Stromnetze in Deutschland. "Es darf nicht sein, dass jeder Mast umkämpft ist", sagte er dem Handelsblatt.

Nach Angaben von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) fehlen schon heute 3500 Kilometer Stromnetze in Deutschland. Im Eckpunktepapier Brüderles zum Netzausbau hieß es, die Herausforderungen seien vergleichbar mit dem Ausbaubedarf der Infrastruktur nach der Wiedervereinigung. Für die Ökoenergiebranche hat die mögliche Zäsur in der Atompolitik enorme Bedeutung: Die Firmen wollen einer Befragung zufolge allein in diesem Jahr rund 5,5 Milliarden Euro investieren, um für eine Zeit ohne Atomenergie gerüstet zu sein. "Wir können die Kernkraft bis spätestens 2020 ersetzen", sagte der Geschäftsführer des Bundesverbands Erneuerbarer Energien (BEE), Björn Klusmann.

Bis 2014 könnten sich die Investitionen voraussichtlich auf 6,2 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen. Derzeit arbeiten schon knapp 370.000 Menschen in der Ökoenergiebranche, der Anteil von Strom aus Wasser- und Windkraft, Solarenergie und Biomasse liegt bei knapp 17 Prozent. Die Branche strebt bis 2020 einen Ökostrom-Anteil von 47 Prozent an. Chancen durch eine Energiewende rechnet sich auch der Bau- und Dienstleistungskonzern Bilfinger Berger aus. Auf dem Weg in die regenerative Energieerzeugung böten sich für Kraftwerksdienstleistungen vermutlich mehr Chancen als Risiken, sagte der scheidende Vorstandschef Herbert Bodner.

Deutschland als wichtigster Industriestandort Europas sei auf verlässliche und bezahlbare Energie angewiesen. BDI-Präsident Keitel sagte im Stern, nach der Atomkatastrophe in Japan sei die technische Welt eine andere geworden. Er plädierte für eine "substanzielle Wende". Aber die "gelingt nicht von heute auf morgen".

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