In der Halle herrscht ein Surren, als flöge ein Schwarm Heuschrecken umher. In endlosen Reihen brummen die Nähmaschinen, dahinter zumeist Frauen mit bunten Kopftüchern. Von hohen Decken hängen Lampen wie an langen Fäden und spenden Licht. Schilder verbieten Rauchen und Telefonieren, hier und da hängen Hinweise: alle Fäden abschneiden! Keine Metallteile in Kleidern zurücklassen, Verletzungsgefahr! Wie so eine Musterfabrik eben aussieht. Jay Jay heißt sie.
Vieles ist anders an dieser Fabrik. Nicht in Bangladesch steht sie, in Pakistan oder Indien - sondern in Äthiopien. Die Arbeiter sind nicht in mehreren Geschossen untergebracht wie im Rana Plaza, jener Textilfabrik, die 2013 in Bangladesch einstürzte. Keine hölzernen Zwischendecken sind eingezogen, die aus der pakistanischen Fabrik Ali Enterprises 2012 ein flammendes Inferno machten, dessen Fluchtwege verriegelt waren. Stattdessen hängen bei Jay Jay überall Feuermelder und rote Alarmlampen. 1700 Näherinnen arbeiten hier.
In zwei Wochen jährt sich Katastrophe von Rana Plaza zum vierten Mal
Gut zwei Wochen noch, dann jährt sich das Unglück in Rana Plaza zum vierten Mal. In der Folge gründete das Entwicklungsministerium seinerzeit ein "Bündnis für nachhaltige Textilien", es sollte neue Standards für die Textilproduktion setzen. Das Kalkül: Wenn deutsche Firmen von ihren Zulieferern strengere Regeln verlangen, dann verbessert das die Bedingungen auf breiter Front - also auch bei Zulieferern, die nur einen Teil ihrer Produktion nach Deutschland liefern.
Jay Jay etwa produziert Baby-Bekleidung für den europäischen Markt, Hauptauftraggeberin ist die schwedische Textilkette Hennes & Mauritz. Auch im Textilbündnis sind die Schweden Mitglied, ebenso Ketten wie Primark und C&A, wie Aldi und Lidl, Adidas und Puma. Doch nun steht das Bündnis vor der Nagelprobe.
Bis Ende März mussten die Unternehmen "Roadmaps" einreichen - Selbstverpflichtungen auf mehr Fairness. Jedes Unternehmen musste darlegen, was es in den nächsten Monaten machen will, um die Umwelt zu schonen oder die Rechte von Arbeitern zu sichern. "Wenn alle Bündnismitglieder ihre Ziele setzen und angehen, werden wir 2500 Einzelmaßnahmen allein 2017 umsetzen", sagt Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes Textil und Mode. "Das ist ein Riesenerfolg des Textilbündnisses." Wenn.
Längst ist noch nicht ausgemacht, wie groß der Erfolg sein wird. Denn was sich die Unternehmen konkret vornehmen, wird erst einmal so wenig dargelegt wie deren gegenwärtige Produktionsbedingungen: Die Firmen haben Angst, dass die Konkurrenz daraus zu viele Schlüsse ziehen kann. Außerdem sollen Unternehmen nicht öffentlich angeprangert werden, wenn sie die eigenen Pläne nicht einhalten. "Zu viel Information will man der Öffentlichkeit scheinbar nicht zumuten", sagt Andrea Perschau, Textilexpertin bei der Umweltorganisation Greenpeace. "Das entspricht nicht unserer Vorstellung des Rechts auf Information." Ohnehin seien die Ziele des Bündnisses nicht ambitioniert genug, was etwa den Umgang mit gefährlichen Chemikalien angehe.
Schon jetzt ist klar, dass das lose Bündnis auf dem Weg zum gemeinsamen Unterfangen schrumpfen wird. Derzeit werden die Aktionspläne der Firmen von "unabhängigen Dritten" geprüft. Unternehmen, die nur so tun, als wollten sie etwas ändern, sollen im Zweifel ausgeschlossen werden. Andere steigen schon vorher aus, etwa das Coesfelder Textilhaus Ernstings Family. Zu viele Fragen seien ungeklärt, die Folgen des Bündnisses für das Unternehmen nicht kalkulierbar, sagt ein Unternehmenssprecher. Die Meinungsbreiten zwischen einzelnen Beteiligten seien enorm. Noch im November führte das Mitgliederverzeichnis des Bündnisses 170 Partner - inzwischen sind es noch 154.
Auch der Sportartikler Trigema verschwand still und leise von der Liste. "Ich sehe nicht, welche Vorteile ich davon habe", sagt Firmenchef Wolfgang Grupp, "außer viel Aufwand". Schließlich fertige er schon jetzt ausschließlich in Deutschland, unter strengen Umweltauflagen und mit besten Arbeitsbedingungen. "Wenn die aufwendige Roadmap Bedingung für eine Mitgliedschaft ist, dann müssen sie mich aus dem Bündnis ausschließen", sagt er.
Entwicklungsminister Gerd Müller ist dennoch vom Erfolg überzeugt. Er träumt von einem "grünen Knopf", der künftig nachhaltig produzierte Textilien kennzeichnen soll. Er hätte auch nichts dagegen, wenn der als "Müller-Knopf" in die Geschichte einginge, ein Siegel, nach dem bewusste Kunden dann Ausschau halten. Dieser Tage hat er sich selbst von den Fortschritten überzeugt, vor Ort in Äthiopien. "Das hier ist ein Baustein auf dem Weg", sagt er. "Wir kommen voran." Schritt für Schritt komme die Textilwirtschaft nun einer nachhaltigen Produktion näher, mit jeder neuen Selbstverpflichtung etwas mehr. Bei Jay Jay finanziert der Bund zudem ein Ausbildungsprojekt, denn eine Textil-Tradition wie Bangladesch oder Pakistan hat Äthiopien nicht. "Der Vorteil ist, dass wir hier gleich mit guten Standards einsteigen", schwärmt Müller.
Derweil bekommen Arbeiter aus anderen Textilländern in Berlin Fortbildungen, in denen Gewerkschafter sie mit den Vorzügen eines Betriebsrats vertraut machen. Erst kürzlich waren in Bangladesch Arbeiter für mehr Lohn auf die Straße gegangen. Weil viele von ihnen im Gefängnis landeten oder den Job verloren, ist die Branche nun abermals in Sorge um ihren Ruf.
Die Bundeswehr soll mit gutem Beispiel vorangehen
Eine "Roadmap" liefert auch der Bund selbst ab, wie alle im Bündnis. Einer seiner Pläne: Stufenweise sollen Einrichtungen des Bundes die Hälfte aller Textilien aus nachhaltiger Produktion beziehen. Was harmlos klingt, ist vor allem für die Bundeswehr eine Herausforderung. Sie hat die größte Nachfrage nach Bekleidung. Dennoch willigte das Verteidigungsministerium nach zähen Verhandlungen in den Plan ein. Wenn das Schule macht, geraten auch die Kirchen unter Druck: Vor allem in kirchlichen Krankenhäusern gäbe es reichlich Bettwäsche oder Arztkittel, die sich auch nachhaltig herstellen ließen.
Äthiopien träumt von einer neuen industriellen Zukunft. "Es gibt genügend Rohstoffe, günstige Energie, günstige Arbeit", sagt Fitsum Arega, oberster Standortwerber des Landes. Alle Genehmigungen kämen aus einer Hand. "Die Firmen können sich ganz darauf konzentrieren, Textilien zu produzieren." Zwölf Industrieparks sind dafür entstanden, bis 2020 soll sich die Zahl der Textilarbeiter versiebenfachen, von 46 000 auf 320 000 Beschäftigte. Hunderte neuer Jay Jays sollen dafür entstehen, viele sind schon in Bau. Jay Jay selbst haben Investoren aus Bangladesch errichtet. Auch wegen der Kosten: Die Löhne in Äthiopien liegen noch unter jenen 60 Euro je Monat, mit denen Arbeiter in Bangladesch inzwischen unzufrieden sind.