Hinter der freundlichen Fassade der neuen Lieferdienste verbergen sich große finanzstarke Investoren, die mit jedem Cent rechnen, möglichst schnell viel Geld verdienen wollen und dabei, vorsichtig formuliert, mit allen Mitteln ausloten, wie weit sich das deutsche Arbeitsrecht mit seinen jahrzehntelang bewährten Sozialstandards dehnen lässt. Doch inzwischen regt sich Widerstand.
Allein Foodora beschäftigt 2500 Fahrer in 19 Städten Deutschlands, als Vollzeitfahrer mit bis zu 168 Stunden im Monat, als Midi- oder Minijobber oder als Werkstudent - für mindestens neun Euro die Stunde, in der Regel zunächst befristet. So viel bekommen auch die 1000 festangestellten Fahrer von Lieferando. Nur beim britischen Konkurrenten Deliveroo, die Marke mit dem Känguru im Logo, sind noch fast die Hälfte der gut 1000 Fahrer selbständig. Sie arbeiten auf Abruf. Die Fahrer sagen, sie bekämen pro Lieferung fünf, sechs Euro.
Ein Essens-Kurier sucht nach der richtigen Adresse.
(Foto: Getty Images)Eigentlich galt diese neue Klasse der prekär beschäftigten Arbeitnehmer als nicht organisierbar. Nun demonstrieren sie, gründen Betriebsräte und entdecken wie einst die ersten streikenden Arbeiter im 19. Jahrhundert ihre Verhandlungsmacht, auch in anderen europäischen Städten wie London, Marseille oder Wien ist das so.
In Deutschland gehört Köln neben Berlin zu den Rebellen-Hochburgen der Kuriere. Gräber ist über Facebook in ständigem Kontakt mit Kölner Kollegen. Dort stehen im Februar Dutzende Demonstranten auf dem Hans-Böckler-Platz. Sie tragen die fröhlich bunten Foodora- und Deliveroo-Trikots über dicken Pullovern und Jacken und halten Plakate hoch. Auf denen steht "100% Befristung - 0% Sicherheit." Und: "9 € Lohn - minus eigene Winterkleidung, minus Verschleiß, minus Reparaturzeit, minus Arbeitssicherheit." Auf ein weißes Betttuch haben sie das Schlagwort in Großschrift gemalt, unter dem sie sich in Online-Foren verabreden, absprechen und informieren: Liefern am Limit. Das klingt so wie Leben am Limit, und das ist kein Zufall.
Einer von ihnen erzählt, wie er seine Wohnung verlor, weil Deliveroo seinen Lohn aus unerfindlichen Gründen nicht überwies, obwohl er gearbeitet hat. Ein anderer sagt, er müsse seine Kirchensteuer nachzahlen, weil Deliveroo vergessen habe, sie abzuführen. Ein dritter berichtet, Deliveroo ändere bisweilen Schichtpläne, obwohl die Schicht längst begonnen habe. Dadurch erlitten viele Kuriere Verdienstausfälle. Ihr Arbeitgeber sei aber am Telefon oft nicht zu erreichen, Mails blieben wochenlang unbeantwortet.
Der Tag der Demo ist zugleich der Tag, an dem sie in Köln den ersten Betriebsrat von Deliveroo in Deutschland gegründet haben. Auch Keno Böhme ist dabei. Er hat mitgeholfen, im vorigen Jahr bei Foodora in Köln einen Betriebsrat aus der Taufe zu heben und war jetzt der Initiator des Gremiums bei Deliveroo. Nur im Rat sitzt er nicht. Deliveroo hat ihn quasi gefeuert oder korrekt gesagt: seinen sachgrundlos befristeten Vertrag nicht verlängert. Während bei Foodora sich ein Betriebsrat ohne großes Störfeuer des Arbeitgebers bilden konnte, erinnern die Reaktionen von Deliveroo an frühkapitalistische Muster.
Deliveroo und die Rechte der Selbständigen
Böhme stritt sich persönlich mit Deliveroo-Deutschlandchef Felix Chrobog, Sohn eines ehemaligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt. Sie zankten sich um Ort und Zeit der Wahlversammlung, um Winterkleidung und Verdienstausfälle. Am Ende musste Böhme gehen - wie viele andere auch, deren Vertrag auslief. "Von Mitte November bis heute sank die Zahl der Beschäftigten von 140 auf 35", sagt Orry Mittenmayer, der Betriebsratsvorsitzende. "Sie wurden durch sogenannte Freelancer ersetzt. Damit will uns Deliveroo die rechtliche Grundlage für einen Betriebsrat entziehen." Das Gremium gibt es jetzt, sollte aber Deliveroo - wie von Mittenmayer erwartet - weiter die Verträge auslaufen lassen, wird es bald keine Beschäftigten mehr geben, die der Betriebsrat vertreten könnte.
Nach Meinung von Deliveroo handelt es sich bei den Freelancern um Selbständige. Und die können gar keinen Betriebsrat haben, genauso wie sie keinen Urlaubsanspruch haben, keinen Lohn bei Krankheit bekommen und bei einem Arbeitsunfall nicht durch die Berufsgenossenschaft des Arbeitgebers abgesichert sind.