Kampf für bessere Arbeitsbedingungen:Die Rad-Rebellen

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Kein Traumjob: Ein Fahrradkurier unterwegs in Frankfurt am Main. (Foto: imago/Ralph Peters)

Immer mehr Bürger bestellen Essen im Internet. Tausende Kuriere liefern es. Ihre Arbeit ist riskant, sie verdienen nicht viel. Nun beginnen die Fahrer, sich gegen ihre Arbeitgeber zu wehren.

Von Michael Kläsgen und Thomas Öchsner

Es weht ein eiskalter Wind an diesem Abend. Bernd Gräber hat die letzte Sushi-Box abgeliefert. Es ist kurz vor 21 Uhr. Der junge Mann steigt auf sein Rennrad. Er hat sich eingemummelt in Thermokleidung, die er selbst kaufen musste. Die oberste Schicht bildet ein dünnes Jäckchen seines Arbeitgebers Foodora, für das eine Kaution fällig war. Gräber hat auch an diesem Tag bei Temperaturen unter null Grad gut 20 Kilometer zurückgelegt, immer mit dem pinken Foodora-Rucksack auf dem Rücken. Jetzt muss er noch durch die Kälte nach Hause fahren und sein Rad warten. An solchen Wintertagen ist sein Rad besonders verschmutzt. Morgen muss es wieder startklar sein. "Der Radcheck kann schon mal eine halbe Stunde dauern", sagt er. Bremsen justieren, Schrauben nachziehen, Reifen aufpumpen, putzen. Das kostet Zeit. Es ist Arbeitszeit, für die der Kurier nicht bezahlt wird.

In den neun Euro Stundenlohn ist sie nicht inbegriffen. Und das ist neben der Kleidung, die so schnell durchnässt, nicht das Einzige, was ihn und viele andere Fahrer von Lieferdiensten wie Foodora nervt.

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Gräber, ein schlanker, sportlicher Typ mit kurzen Haaren, fährt an diesem Abend nicht direkt nach Hause. Er sitzt jetzt in einer Burger-Braterei und spricht über seine Pläne. Er will in seiner Stadt einen Betriebsrat gründen. Damit gefährdet er seinen Job und auch den seiner Mitstreiter. Deswegen will er keinesfalls seinen richtigen Namen und die Stadt, in der er arbeitet, in der Zeitung genannt wissen.

Der junge Mann zieht seinen Arbeitsvertrag aus der Tasche, mehr braucht es nicht, glaubt er, um zu zeigen, warum er sich jetzt wehren will. Er blättert bis Paragraf 15. Darin wird er verpflichtet, mit seinem eigenen Fahrrad zu fahren und sich selbst um Reparaturen zu kümmern. Unbezahlte Mehrarbeit ist das für ihn und eine Unterwanderung des Mindestlohns. Gräber muss für seine Arbeit auch ein Smartphone besitzen, nicht irgendeines, sondern ein relativ neues. Nur dann funktioniert die Foodora-App und nur dann erfährt er, wo er das Essen abholen und wohin er es liefern muss.

Der Alltag hat mit einem geregelten Arbeitsleben nichts zu tun

Auch das Smartphone kostet Geld und die App Datenvolumen. All das geht auf die Kosten des Kuriers. Gräber ist Anfang 20, er arbeitet auf 450-Euro-Basis und fährt Essen abends und am Wochenende aus, so wie die meisten, die für "digitale Bestellplattformen" arbeiten. So heißen Kurierdienste wie Foodora, Deliveroo oder Lieferando offiziell. Sie bereiten selbst kein Essen zu, sie holen es nur ab und stellen es zu. Sie werben mit einem "faszinierenden Take-away-Erlebnis", mit "Lieblingsessen zum Anbeißen". Den Ridern versprechen sie ein "tolles Arbeitsklima", eine "faire Bezahlung" mit bis zu zwölf Euro die Stunde.

Das Geschäft der neuen Lieferdienste boomt. Während auf dem Land Gasthöfe schließen, ordern in der Stadt immer mehr Menschen über die Apps der digitalen Lieferdienste ihr Essen nach Hause oder ins Büro. Die Schnellgastronomie wächst in Deutschland, auch wegen Foodora, Deliveroo und Co. Der Boom findet allerdings auf dem Rücken der Kuriere statt. Es entsteht ein neuer Arbeitsalltag, der mit dem geregelten Leben eines Büroangestellten oder Fabrikarbeiters nicht mehr viel zu tun hat.

Hinter der freundlichen Fassade der neuen Lieferdienste verbergen sich große finanzstarke Investoren, die mit jedem Cent rechnen, möglichst schnell viel Geld verdienen wollen und dabei, vorsichtig formuliert, mit allen Mitteln ausloten, wie weit sich das deutsche Arbeitsrecht mit seinen jahrzehntelang bewährten Sozialstandards dehnen lässt. Doch inzwischen regt sich Widerstand.

Allein Foodora beschäftigt 2500 Fahrer in 19 Städten Deutschlands, als Vollzeitfahrer mit bis zu 168 Stunden im Monat, als Midi- oder Minijobber oder als Werkstudent - für mindestens neun Euro die Stunde, in der Regel zunächst befristet. So viel bekommen auch die 1000 festangestellten Fahrer von Lieferando. Nur beim britischen Konkurrenten Deliveroo, die Marke mit dem Känguru im Logo, sind noch fast die Hälfte der gut 1000 Fahrer selbständig. Sie arbeiten auf Abruf. Die Fahrer sagen, sie bekämen pro Lieferung fünf, sechs Euro.

Ein Essens-Kurier sucht nach der richtigen Adresse. (Foto: Getty Images)

Eigentlich galt diese neue Klasse der prekär beschäftigten Arbeitnehmer als nicht organisierbar. Nun demonstrieren sie, gründen Betriebsräte und entdecken wie einst die ersten streikenden Arbeiter im 19. Jahrhundert ihre Verhandlungsmacht, auch in anderen europäischen Städten wie London, Marseille oder Wien ist das so.

In Deutschland gehört Köln neben Berlin zu den Rebellen-Hochburgen der Kuriere. Gräber ist über Facebook in ständigem Kontakt mit Kölner Kollegen. Dort stehen im Februar Dutzende Demonstranten auf dem Hans-Böckler-Platz. Sie tragen die fröhlich bunten Foodora- und Deliveroo-Trikots über dicken Pullovern und Jacken und halten Plakate hoch. Auf denen steht "100% Befristung - 0% Sicherheit." Und: "9 € Lohn - minus eigene Winterkleidung, minus Verschleiß, minus Reparaturzeit, minus Arbeitssicherheit." Auf ein weißes Betttuch haben sie das Schlagwort in Großschrift gemalt, unter dem sie sich in Online-Foren verabreden, absprechen und informieren: Liefern am Limit. Das klingt so wie Leben am Limit, und das ist kein Zufall.

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Einer von ihnen erzählt, wie er seine Wohnung verlor, weil Deliveroo seinen Lohn aus unerfindlichen Gründen nicht überwies, obwohl er gearbeitet hat. Ein anderer sagt, er müsse seine Kirchensteuer nachzahlen, weil Deliveroo vergessen habe, sie abzuführen. Ein dritter berichtet, Deliveroo ändere bisweilen Schichtpläne, obwohl die Schicht längst begonnen habe. Dadurch erlitten viele Kuriere Verdienstausfälle. Ihr Arbeitgeber sei aber am Telefon oft nicht zu erreichen, Mails blieben wochenlang unbeantwortet.

Der Tag der Demo ist zugleich der Tag, an dem sie in Köln den ersten Betriebsrat von Deliveroo in Deutschland gegründet haben. Auch Keno Böhme ist dabei. Er hat mitgeholfen, im vorigen Jahr bei Foodora in Köln einen Betriebsrat aus der Taufe zu heben und war jetzt der Initiator des Gremiums bei Deliveroo. Nur im Rat sitzt er nicht. Deliveroo hat ihn quasi gefeuert oder korrekt gesagt: seinen sachgrundlos befristeten Vertrag nicht verlängert. Während bei Foodora sich ein Betriebsrat ohne großes Störfeuer des Arbeitgebers bilden konnte, erinnern die Reaktionen von Deliveroo an frühkapitalistische Muster.

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Böhme stritt sich persönlich mit Deliveroo-Deutschlandchef Felix Chrobog, Sohn eines ehemaligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt. Sie zankten sich um Ort und Zeit der Wahlversammlung, um Winterkleidung und Verdienstausfälle. Am Ende musste Böhme gehen - wie viele andere auch, deren Vertrag auslief. "Von Mitte November bis heute sank die Zahl der Beschäftigten von 140 auf 35", sagt Orry Mittenmayer, der Betriebsratsvorsitzende. "Sie wurden durch sogenannte Freelancer ersetzt. Damit will uns Deliveroo die rechtliche Grundlage für einen Betriebsrat entziehen." Das Gremium gibt es jetzt, sollte aber Deliveroo - wie von Mittenmayer erwartet - weiter die Verträge auslaufen lassen, wird es bald keine Beschäftigten mehr geben, die der Betriebsrat vertreten könnte.

Nach Meinung von Deliveroo handelt es sich bei den Freelancern um Selbständige. Und die können gar keinen Betriebsrat haben, genauso wie sie keinen Urlaubsanspruch haben, keinen Lohn bei Krankheit bekommen und bei einem Arbeitsunfall nicht durch die Berufsgenossenschaft des Arbeitgebers abgesichert sind.

"Das sind oft Leute, die kaum Deutsch sprechen und die keine Ahnung vom deutschen Arbeitsrecht haben", sagt ein Demonstrant auf dem Hans-Böckler-Platz. "Die nehmen alles hin, weil sie es nicht anders kennen." Die Fahrer sind oft über soziale Netzwerke verbandelt, aber es gibt in der Regel kein Betriebsgelände, keinen Pausenraum, wo sie Kollegen treffen könnten. Sie sehen sich mal kurz an der Ampel, und dann war's das. Die Fluktuation ist hoch und die Bindung zum Arbeitgeber gering. Alteingesessene Gewerkschaften erreichen sie kaum. Viele wollen auch nicht erreicht werden oder sie verbünden sich wie in Berlin in der anarchistischen Freien Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU).

Der gerade eben erst gegründete Betriebsrat von Deliveroo in Köln könnte jedenfalls schon bald obsolet sein. Auch die Verträge der Betriebsratsmitglieder laufen aus. Wenn es ihnen nicht in wenigen Wochen gelingt, ihre Verträge von Fristen zu befreien, sind sie draußen.

Elmar Jost von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in Köln sagt: "Das Geschäftsmodell der Lieferdienste beruht auf der Prekarität der Mitarbeiter." Deliveroo-Deutschlandchef Chrobog findet hingegen: "Die Stimmung bei unseren Fahrern ist gut." Proteste von Kurieren, die in Berlin vor der deutschen Firmenzentrale alte Schläuche und Fahrradmäntel warfen, "sehen wir nicht als repräsentativ". So sagte er es vor mehr als einem halben Jahr in einem Interview. In der Süddeutschen Zeitung äußert er sich nicht. Das Unternehmen ließ einen Fragenkatalog der SZ unbeantwortet, obwohl sich eine von Deliveroo beauftragte PR-Agentur redlich um eine Reaktion der Firmenführung bemühte.

Ein Bonus von einem Euro

In der bunten neuen Lieferwelt wird lieber das gängige Start-up-Narrativ gepflegt: Wir sind alle ein Team, wir wollen doch alle Erfolg haben. Noch erwirtschaften die weltweit agierenden Unternehmen damit keine Gewinne. Aber sie hoffen wohl darauf - wie im Fall Flixbus, das den Fernbusmarkt inzwischen beherrscht - Konkurrenten in dem harten Preiswettbewerb vom Markt zu verdrängen und sich in eine monopolähnliche Stellung zu bringen. Um das zu schaffen, werden Fahrer wie Bernd Gräber zu Höchstleistungen getrieben.

Die Lieferplattformen wissen stets, was ihre Mitarbeiter gerade tun. Über das Satellitennavigationssystem GPS lässt sich in Echtzeit verfolgen, wo sie sich gerade aufhalten. Das Unternehmen kennt die Geschwindigkeit, mit der die Zusteller fahren, das Tempo, mit dem sie die Aufträge entgegennehmen und wie lange sie bei den Kunden sind. Aber wie die Leistung bewertet wird, hängt nicht von der Durchschnittsgeschwindigkeit ab.

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Gräber zeigt auf seinem Smartphone eine Mail, die Foodora an ihn verschickt hat. Sie soll ihn dazu motivieren, sich den Bonus von einem Euro zusätzlich zu den neun Euro Stundenlohn zu erfahren. In der Mail steht, wo seine Schwachstellen sind: Er fährt einfach nicht häufig genug, und seine "Lieferquote", die Zahl der Auslieferungen pro Stunde, ist nicht gut genug.

Immer donnerstags wird über eine Onlineplattform der Schichtplan für die nächste Woche erstellt. Gräber kann angeben, wann er Zeit hat, oft hält sich Foodora nicht an seine Wünsche. Voraussetzung für den einen Euro mehr ist laut seinem Vertrag aber ohnehin der volle Einsatz am Wochenende. In dieser Zeit laufen die meisten Bestellungen ein. Für die Fahrer ist das die stressigste Zeit. Wollen sie den Bonus, müssen sie vom Freitagabend bis Sonntagnacht mindestens 20 Stunden gearbeitet haben. Wer abwesend war und etwa durch Krankheit ausfiel, hat keine Chance, den Euro mehr pro Stunde zu ergattern.

In Gräbers Vertrag ist die wöchentliche Arbeitszeit auf 50 Stunden limitiert, deutlich mehr, als dies normalerweise üblich ist. Zuschläge für Nacht-, Sonn- oder Feiertagsarbeit oder gar zusätzliches Urlaubsgeld, wie in deutschen Tarifverträgen geregelt, sind nicht vorgesehen. Urlaubstage werden laut Foodora bezahlt, es gebe jedoch "keine Sonderzahlungen", teilt das Unternehmen mit. Dafür kann sich Gräber über ein paar Euro Trinkgeld je Schicht freuen, jeder zweite Kunde gebe ihm was, sagt er.

Aber weder ist der Amateursportler, der im Verein sogar Radrennen gefahren ist, auch nur in die Nähe des Bonus' gekommen. Noch ist er in der ausgeklügelten Hierarchie des Unternehmens aufgestiegen, das die Fahrer zu besseren Leistungen anspornen soll. Da gibt es etwa den "Rider Captain", eine Art Anführer einer Fahrergruppe, für den es nach Angaben von Foodora einen Euro pro Stunde mehr gibt. Oder gar den "Senior Rider Captain", der neue Fahrer schulen darf und dafür einen Euro zusätzlich verdient.

Auch durch den Schnee quälen sich Foodora-Fahrer. (Foto: imago/Ralph Peters)

Gräber sagt, dem Fahrer nütze es wenig, für den Bonus schnell zu fahren, wenn es in der Lieferkette anderswo hakt. "Es liegt ja nicht an den Fahrern, ob sie im Restaurant beim Abholen aufs Essen warten müssen." Das Bonussystem hält er nicht nur deshalb für fragwürdig: "Es lädt dazu ein, riskanter zu fahren, als es sinnvoll wäre und es mit der Straßenverkehrsordnung nicht allzu genau zu nehmen", kritisiert er. Unfälle und Schäden am Fahrrad gehören zum Alltag der Fahrer. Dem Kölner Foodora-Betriebsrat wurde auf Anfrage von der Firmenleitung mitgeteilt, dass 2017 allein in der Domstadt 535 Unfälle oder Sachschäden von Foodora-Fahrern gemeldet wurden. In 21 Fällen hätten sich dabei Kuriere so verletzt, dass sie vom Arzt länger als drei Tage krankgeschrieben worden seien.

Die Fahrer müssen aber auch ein hohes finanzielles Risiko tragen, weil sie selbst dafür sorgen müssen, dass ihr Arbeitsgerät - das Fahrrad - funktioniert. Zumindest Foodora zahlt seit Februar 25 Cent pro gefahrener Stunde oder maximal 42 Euro bei einem Vollzeitjob von 168 Stunden für Reparaturen und Ersatzteile, wenn die Fahrer einen bestimmten Fahrradservice nutzen. "Damit ist die Höhe der Reparaturkosten jedoch nicht im Entferntesten abgedeckt", sagt Gräber. "Ist das Fahrrad in einer Werkstatt, kann ich nicht arbeiten."

Vielleicht streiken sie

Bei den anderen Kurierdiensten ergeht es den Beschäftigten nicht besser. Bei den Kollegen von Deliveroo und auch bei Gräber steht Lieferando recht hoch im Kurs. Der Essenslieferant, Ableger eines niederländischen Unternehmens, stellt seinen Mitarbeitern vereinzelt sogar E-Bikes zur Verfügung und zahlt Sonn- und Feiertagszuschläge. Es gibt dort aber bundesweit keinen Betriebsrat. Das Unternehmen kümmere sich in jeder Stadt um alle Belange der Fahrer. Ein Betriebsrat hingegen, teilt Lieferando mit, entspricht "grundsätzlich nicht unserer Kultur als junges, sowie modernes und offenes Unternehmen".

Gräber lässt sich davon nicht entmutigen. "Wir haben gelernt, uns zu organisieren und uns zu wehren", sagt er. Die Fahrer reden bereits über einen Streik.

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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