Süddeutsche Zeitung

Junge Gründer:Der Gummi aus dem Bioladen

Raus aus der Schamecke: Ein Start-up erfindet Kondome und Periodenartikel neu.

Von Verena Mayer

Auf den ersten Blick ist die Firma Einhorn ein typisches Berliner Start-up. In einer Fabriketage in einem Kreuzberger Hinterhof untergebracht, geleitet von zwei vollbärtigen Hipstern, die irgendwann ein Nischen-Produkt auf den Markt brachten, nämlich nachhaltig erzeugte Kondome in Verpackungen, die aussehen wie Chipstüten. Das Geld dafür haben sie sich 2015 über eine Crowdfunding-Kampagne besorgt, und sie haben solange bei Start-up-Treffen und Branchenveranstaltungen dafür getrommelt, bis man in der Szene an den beiden Kondom-Jungs nicht mehr vorbeikam. Bald führten Bioläden und später auch Drogeriemärkte die Kondome aus Naturkautschuklatex, den Gründern Philip Siefer und Waldemar Zeiler zufolge hat die Firma im vergangenen Jahr sechs Millionen Euro Umsatz gemacht.

Hier könnte die Geschichte enden, als Erfolgsstory aus einer Stadt, die sich im von der Wirtschaftssenatorin herausgegebenen Start-up-Monitor 2020 gerade wieder als Metropole der Digitalindustrie gefeiert hat. Demnach sind Start-ups mit inzwischen 80 000 Arbeitsplätzen der am schnellsten wachsende Sektor in der Hauptstadt, allein auf dem Gebiet der Finanztechnologie ist Berlin ein Hot Spot, mehr als ein Drittel der deutschen FinTech-Unternehmen sind hier angesiedelt.

Doch das Modell von Siefer und Zeiler geht über das eines klassischen Start-ups hinaus. Denn hier wird nicht nur ein Produkt entwickelt und verkauft, sondern auch eine Botschaft mit dem Produkt verknüpft. Sie lautet, dass Dinge, die Körper und Sexualität betreffen, enttabuisiert werden müssen. Daher der Fokus auf Kondome, bei denen sich die beiden Gründer gefragt hätten, warum diese immer wie Medizinprodukte aussehen müssen, und warum es sie nicht auch zum Beispiel vegan, fair gehandelt und ansprechend gestaltet gibt, sagt Waldemar Zeiler.

Nach den Kondomen hätten sie überlegt, etwas mit ökologisch hergestelltem Toilettenpapier zu machen, doch die Frauen im Team hätten gesagt: Wir haben die Kondome unfucked, jetzt lasst uns auch unsere Menstruationsprodukte unfucken. "Unfuck" ist ein typisches Wort aus der Start-up-Szene, Zeiler verwendet es alle drei Sätze. Es bedeutet eigentlich nur, dass man etwas anders machen will, klinge aber provokativ und wecke daher Interesse, sagt Zeiler. Die Einhorn-Leute begannen, Binden, Tampons und Menstruationstassen herzustellen, die Verpackungen auffällig zu gestalten und mit Sprüchen und Botschaften zu versehen. Dass Blutungen Schmerzen machen etwa und Frauen gelernt hätten, sie zu verstecken. Und dass sich das jetzt ändern müsse. "Es gibt nichts Gutes, außer man blutet's", lautet der Slogan für eine Slipeinlage, auf einer Tamponschachtel wird man aufgefordert, mit dem Inhalt auch mal zu rasseln, um auf das Thema aufmerksam zu machen.

Getragen wird die Firma dabei von einer weltweiten Bewegung, die sich dafür einsetzt, die Periode aus der Schamecke herauszuholen. Signalisierte in der Werbung einst eine blaue Flüssigkeit, worum es geht, posten junge Frauen heute ihre blutige Unterwäsche in den sozialen Medien und setzten sich Aktivistinnen dafür ein, die Mehrwertsteuer für Tampons und Binden zu senken. Auch für die Periodenartikel gilt: Die Produkte stehen nicht nur für sich, sondern haben auch eine Botschaft, Markt und Message verstärken sich gegenseitig. Ein Start-up ist in dieser Logik nur so gut wie die Mission, die dahinter steckt.

Mit Waldemar Zeiler spricht man per Videocall, er erscheint mit Mütze, Vollbart und Brille auf dem Bildschirm. 1982 geboren, ist er als Kind aus Kasachstan nach Deutschland gekommen und hat eine typische Gründer-Biografie: Noch während der Schulzeit zog er sein erstes Unternehmen, eine Berufsberatung, auf, danach hat er mehrere Start-ups an die Wand gefahren, bis er schließlich mit Kondomen und Periodenartikeln den Durchbruch schaffte. Inzwischen sei man bei einer weiteren Stufe angekommen, erzählt Zeiler.

Indem man sich nicht nur neue Dinge ausdenken, sondern auch die Struktur selbst umkrempeln wolle, beziehungsweise "unfucken", wie es Zeiler nennt. 2019 haben die Gründer ihr Start-up in Verantwortungseigentum übergeben und sich damit in gewisser Weise selbst enteignet. Das Unternehmen darf jetzt nicht mehr verkauft, die Gewinne müssen reinvestiert werden. Es dürfen nur Leute Entscheidungen treffen, die auch einen Arbeitsvertrag in dem Start-up haben. Sie wollten damit die typische Entwicklung von Start-ups durchbrechen, sagt Zeiler. Dass nämlich die Gründer ihre Unternehmen nach ein paar Jahren gewinnbringend verkaufen. Unternehmen seien keine Spekulationsobjekte, der Erfolg ihrer Firma verdanke sich vor allem den Mitarbeitenden, so Zeiler. 25 Leute sind derzeit bei Einhorn beschäftigt, davon sind zwei Drittel Frauen.

Noch gibt es keine rechtliche Konstruktion für eine solche Struktur, das Start-up hat sich eine Krücke über ein Stiftungsmodell geschaffen. Daher wollten sie die Idee nun über die Blase der Berliner Start-ups hinaus bekannt machen, sagt Zeiler, suchten den Kontakt zu politschen Parteien, in die deutsche Wirtschaft. Und er hat inzwischen auch ein Buch darüber geschrieben, wie es mit der Wirtschaft weitergehen kann. Es heißt, natürlich: "Unfuck the Economy".

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Quelle:
SZ vom 30.10.2020
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