Julia Reda geht mit einem Knalleffekt. Man darf aber davon ausgehen, dass ihr zum Ende ihrer Zeit als EU-Abgeordnete ein anderer Knaller lieber gewesen wäre: wenn sie die umstrittene Reform des europäischen Urheberrechts mit einer Parlamentsmehrheit in Straßburg abgeschmettert oder jedenfalls verschoben hätte. Die 32-jährige Politikerin der Piratenpartei gehört zu den schärfsten Kritikern der Reform. Am Ende war ihr Engagement in der Sache zwar nicht vergebens, aber trotzdem erfolglos: Am Dienstag hat das Europaparlament die Reform bestätigt.
Der Knalleffekt ist Reda trotzdem gelungen: Am Mittwochabend rief sie per Youtube-Botschaft dazu auf, die Piratenpartei bei den anstehenden Europawahlen nicht zu wählen - und erklärte gleichzeitig ihren Austritt aus der Partei, deren einzige Abgeordnete im Europaparlament sie in den vergangenen fünf Jahren gewesen war. "Wenn ihr meine Arbeit wertschätzen wollt, dann wählt eine Partei, die sich gegen Upload-Filter engagiert hat, aber wählt nicht die Piratenpartei", sagt Reda in ihrer Botschaft.
Als Grund für ihren Appell nennt sie, dass auf Platz zwei der Piraten-Wahlliste zur Europawahl ein ehemaliger Mitarbeiter von ihr stehe, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen werde: "Das ist für mich absolut inakzeptabel. So jemand darf nicht gewählt werden."
Aus der Partei trete sie aus, weil "die Piraten nicht alles getan haben, was sie hätten tun können", um die Aufstellung des Kandidaten zu verhindern, nachdem die Vorwürfe gegen ihn bekannt geworden waren. Ein vom Europaparlament eingesetzter Beirat gegen Belästigung am Arbeitsplatz habe die Vorwürfe bestätigt. Sie selbst habe schon im vergangenen Juli seine Kündigung bei der Parlamentsverwaltung beantragt. Ein Sprecher des Parlaments will den Vorgang mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht kommentieren.
Bei der Piratenpartei heißt es dazu: "Wir reagieren mit Transparenz und Entschlossenheit auf den Vorfall, den Julia Reda anspricht." Die europäische Piratenpartei kündigte am Mittwoch an, dass der Kandidat - sollte er gewählt werden - nicht Teil der Gruppe der Piraten im Europäischen Parlament werden solle.
Ändern kann die Partei die Liste offenbar nicht mehr. Da geht es den Piraten wie der SPD in Brandenburg, die auch mit einem Spitzenkandidaten leben muss, den die meisten nicht mehr haben wollen. Vor wenigen Tagen war herausgekommen, dass er nicht einmal in Brandenburg wohnt.
Zwei prominente Digitalpolitiker sind gegangen
Julia Reda selbst tritt bei der kommenden Wahl auch für keine andere Partei mehr an, sondern überhaupt nicht. Die deutsche Delegation im Europaparlament verliert nach Jan Philipp Albrecht (Grüne), dem "Vater der Datenschutzgrundverordnung", den zweiten prominenten Digitalpolitiker in dieser Legislaturperiode. Albrecht ist inzwischen Minister in Schleswig-Holstein.
Für die deutsche Piratenpartei dürfte der Verlust aber noch schwerer wiegen: Mit Reda verliert sie ihre prominenteste Stimme, die in den vergangenen Wochen Zigtausende, oft junge Wähler mobilisieren konnte - und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die Themen der 2006 gegründeten Partei im Fokus stehen wie selten zuvor. Nach den jüngsten Umfragen werden die Piraten auch bei der kommenden Europawahl mindestens einen Sitz erringen.
Noch deutlich besser sieht es in Tschechien aus: Erst 2017 zogen die Piraten dort mit mehr als zehn Prozent der Stimmen erstmals ins nationale Parlament ein, seit November stellt die Partei den Oberbürgermeister von Prag. Und bei den Europawahlen wollen sie gar die stärkste Kraft im Land werden, sie rechnen sich 20 Prozent der Stimmen aus. Es tue ihr leid "für die europäischen Piraten, die mit der Sache nichts zu tun haben", kommentiert Reda mögliche Auswirkungen ihres Rückzugs auf andere Länder.
Dort, wo Reda zuhause ist, im Internet, machte am Mittwochabend und Donnerstag ein neuer Hashtag die Runde: Unter #thankyoujulia sandten Weggefährten über Parteigrenzen hinweg auf Twitter ihre guten Wünsche, dabei endet Redas Arbeit erst mit den Wahlen Ende Mai.
Auch die politische Gegnerin zollt Respekt
Selbst die politische Gegnerin war voll der guten Worte: Helga Trüpel, die in der grünen Fraktion zwar an Redas Seite, aber bei der Urheberrechtsreform in entgegengesetzte Richtung arbeitete, sagte, sie zolle Reda "Respekt für ihre Arbeit und ihr Engagement. Sie war eine hart kämpfende Gegnerin".
Unter das Lob mischte sich auch Kritik, weil Reda in ihrem Videostatement mutmaßt, ohne den Ärger um ihren einstigen Büroleiter sei die Abstimmung zum Urheberrecht vielleicht anders ausgegangen. "Sie schiebt dem Mitarbeiter, den sie freigestellt hat, die Schuld an der verlorenen Copyright-Abstimmung zu, weil ihr Büro nicht mehr voll arbeitsfähig gewesen sei", sagt Helga Trüpel. "Das überrascht mich."
Der Bundesvorstand der Piratenpartei reagierte auf Redas Ankündigung mit Dank und einer Stellungnahme, die ein bisschen wie ein Praktikumszeugnis klingt: "Sie hat die Interessen der Menschen vertreten und ist jederzeit fachlich kompetent und zukunftsorientiert aufgetreten", heißt es da. "Wir bedauern ihr Ausscheiden aus der Partei und wünschen ihr für ihren weiteren Werdegang viel Erfolg."
Um ihre Zukunft muss sich Reda keine Sorgen machen: Sie wird nach der Wahl in den USA promovieren. Ihr Thema: das Urheberrecht.