Grünen-Politiker Jürgen Trittin:"Wir brauchen eine andere Chemieindustrie"

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Jürgen Trittin, von 1998 bis 2005 Bundesumweltminister, galt als einer der schärfsten Kritiker der Chemieindustrie. (Foto: Johannes Eisele/AFP)

Grünen-Politiker Jürgen Trittin will der Chemieindustrie schrittweise die Subventionen bei der Mineralölsteuer entziehen. Damit will er Innovationen anregen, welche die dramatische Erderwärmung bremsen könnten.

Ein Interview von Stefan Braun und Karl-Heinz Büschemann

Er ist entspannt, er hat Zeit, er plaudert gern und macht Späße. Wenn man Jürgen Trittin in diesen Wochen trifft, erkennt man ihn kaum wieder. Knapp anderthalb Jahre nach seinem Rückzug vom Fraktionsvorsitz strahlt er nur noch wenig aus von der alten Härte. Sogar die Chemie-Industrie kommt besser weg als früher.

SZ: Herr Trittin, Sie galten mal als größter Gegner der chemischen Industrie. Inzwischen äußern Sie sich freundlich über die Branche. Was ist passiert?

Jürgen Trittin: Ich hatte offenbar einen falschen Ruf.

Sie sind immer noch Widersacher?

Nein, die Chemieindustrie hat sich durchaus an einigen Stellen zum Positiven verändert. Aber das geschah doch nicht einfach so, sondern weil die politischen Rahmenbedingungen, vor allem die Umweltpolitik, sie zu Innovationen zwangen. Dazu waren die von sich aus zu bequem.

Sie waren es also, der die Chemie-Branche zu ihren Innovationen führte?

Allein sicher nicht. Aber grüne Politik hat dazu beigetragen. Die deutsche Chemieindustrie lobt heute die europäische Chemikalienverordnung Reach als wegweisend und brüstet sich weltweit als Vorbild für eine moderne, umweltschonende Produktion. Das System musste aber gegen einen extremen Lobby-Sturm der deutschen Chemieindustrie eingeführt werden. Das sind also durchaus Neuerungen, zu denen wir beitrugen.

Und wie haben Sie das gemacht?

Politik und insbesondere auch Umweltpolitik haben die Aufgabe, dem Markt Rahmen zu setzen. Damit ermöglichen sie erst bestimmte Innovationen.

Man kann auch sagen: Sie erzwingen Änderungen. Sie machen Auflagen.

Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich spreche von Innovationen. Sehen Sie doch mal auf die Energiewende. Dass wir heute eine Kostendegression bei Strom aus Photovoltaik von über 90 Prozent haben, ist eine unbestrittene Innovationsleistung, die zehn Jahre dauerte. Oder: BASF macht einen großen Teil ihres Geschäfts mit Dämmstoffen. Warum? Weil neue Standards für Gebäude und Programme zur energetischen Gebäudesanierung Innovationsdruck ausgeübt haben.

Wie erklären Sie die Widerspenstigkeit der großen Konzerne?

Man muss das nicht moralisch sehen, nicht als Bösartigkeit bewerten. Konzerne sind ihren Aktionären verpflichtet. Es geht um das Verhältnis zwischen kurzfristigem Gewinn und langfristiger Wettbewerbsfähigkeit. So funktioniert nun mal Management . . .

Kann Deutschland nicht froh sein, eine starke Chemieindustrie zu haben?

Es gibt in diesem Lande einen großen Konsens, und der sagt: Es ist gut, dass wir in Deutschland eine so große industrielle Wertschöpfung haben.

Genau. Trotzdem erwecken Sie den Eindruck, als sei das ein Problem.

Kein Problem, ein Spannungsfeld. Die angelsächsische Ideologie des Quartalsberichts ist oft mit dem Ziel von industrieller Innovation und der langfristigen Ausrichtung eines Unternehmens schwer in Übereinstimmung zu bringen. Im globalen Wettbewerb stehen die Vorstände immer im Konflikt mit ihren Eigentümern, wenn sie Geld für Investitionen zurückhalten und nicht als Dividende ausschütten. Da helfen wir Grünen manchmal dem ein oder anderen langfristig denkenden Vorstand, weil wir umweltpolitische oder energieeinsparende Innovationen fordern. Er kann dann sagen: Seht her, die bösen Grünen haben mich dazu gezwungen.

Selbstbewusstsein fehlt Ihnen nicht.

Man muss von Dingen überzeugt sein, wenn man sie voranbringen will. Die Folgen, wenn das nicht passiert, wenn wir also keinen Druck machen, kann man gut studieren. Die 100 größten Unternehmen in Deutschland haben 2014 ein Drittel ihrer Gewinne - 36 Milliarden Euro - als Dividende ausgeschüttet. Das ist angesichts der ständigen Notwendigkeit zur Modernisierung viel zu viel, weil so viel zu wenig Geld für Investitionen übrig bleibt.

Lange haben die Grünen den Eindruck erweckt, die chemische Industrie sei in diesem Lande nicht mehr gewollt.

Das stimmt nicht. Was aber wahr ist: Diese Industrie hat sehr, sehr langsam gelernt. Es hat sehr lange gedauert, bis Klaus Töpfer, mein Vorvorgänger im Amt des Bundesumweltministers, wieder durch den Rhein schwimmen konnte. Die Belastung des Rheins kam im Wesentlichen von der chemischen Industrie. Die Unternehmen haben ein Gemeinschaftsgut - die Flüsse, die allen gehören - privatisiert und als Abfallsenke benutzt.

Der frühere BASF-Chef Jürgen Hambrecht war über Sie als Umweltminister so erbost, dass er sich beim damaligen Kanzler beschwert hat. Gefiel Ihnen das?

Lobbyismus ist legitim, aber nervt. Es war verständlich, weil wir streng waren. Das hing unter anderem mit dem Emissionshandel zusammen. Den hatten die Chemieunternehmen selbst als Verfahren vorgeschlagen, um die Kohlendioxid-Emissionen zu begrenzen. Aber als wir das eingeführt haben, waren sie plötzlich dagegen. Die strukturkonservativen Teile der Chemieindustrie hatten sich gegen andere durchgesetzt. Und BASF stand damals eben nicht für die Innovation, sondern für die totale Blockade.

War die Chemieindustrie für Sie ein Geschenk? Solche Gegner braucht man, um sich als Grüner zu profilieren.

Es war unnötig, aber geschadet hat es uns am Ende tatsächlich nicht. Aber es hätte anders besser laufen können. Ein kooperatives Verhalten der Wirtschaft hätte damals beim Emissionshandel zu einem besseren Ergebnis geführt. Das System, das wir damals am Ende durchgesetzt haben, hatte so viele Einfallstore, dass es heute leer läuft. Nun müssen wir nachbessern, um dieses marktwirtschaftliche Instrument wieder zum Laufen zu bringen.

Sie klingen altersmilde. Wie sehen die Aktivisten an der Basis auf die Chemie?

Die Grünen haben anspruchsvolle Wähler, der größere Teil hat eine akademische Ausbildung. Die meisten wissen, dass man keine Windturbinen bauen kann ohne Chemie. Sie wissen, dass die Herstellung einer Solarzelle nur mit Chemie geht. Die Chemieindustrie hingegen unterstellt grünen Wählern, sie seien grundsätzlich gegen Chemie. Das ist Unsinn.

Na ja, nach dem Störfall bei Roche im italienischen Seveso galt die Industrie sehr lange als Hochrisiko.

Sie war es, aber so lange ich an grünen Programmen mitgearbeitet habe, war darin immer festgehalten, dass es ohne leistungsfähige Chemie nicht geht. Und es gilt auch, dass für die deutschen Arbeitnehmer viel gewonnen wäre, wenn es in allen Branchen solche Arbeitsplätze gäbe wie in der Chemieindustrie. Und ja: Das ist jetzt wirklich ein großes Kompliment.

Sie reden als wollten Sie bald in die Branche wechseln.

Nein. Zumal die Branche gerade wieder einen großen Fehler macht. Wenn wir alle bekannten Ölvorräte einfach weiter ausbeuten, werden wir bei einer globalen Erwärmung von vier Grad landen. Das ist nicht tragbar. Wir brauchen also eine andere Chemieindustrie. Sie muss ihren Ölverbrauch senken. Nur wird sie bislang bei der Mineralölsteuer privilegiert, bekommt eine ökologisch schädliche Subvention und tut deshalb viel zu wenig.

Sie wollen die Mineralölsteuer voll in der Chemieindustrie anwenden?

Weder sofort, noch vollumfänglich, das wäre in der Tat ein Programm zur Vertreibung der Grundstoffchemie aus Deutschland. Ich rede also von vorsichtigen Schritten, vom stufenweisen Zurückfahren der Subventionen. Das macht Geld für den Staat frei, mit dem neue Technologien gefördert werden könnten. Eine mutige Chemieindustrie müsste den Einstieg in ein solches Programm wagen.

© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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