Journalismus in der Krise:Fakten zählen

Ein Wachhund, der nicht gebellt hat: Auch der Wirtschaftsjournalismus steckt in der Krise - wie Deutsche und Amerikaner diskutieren.

Nikolaus Piper

"Alles, was die schärfsten Kritiker der Demokratie behaupten, stimmt, wenn es keinen verlässlichen und stetigen Fluss von Informationen gibt. Inkompetenz und Ziellosigkeit, Korruption und Treulosigkeit, Panik und das endgültige Desaster kommen über jedes Volk, dem der gesicherte Zugang zu den Fakten verwehrt wird." Diese Sätze schrieb der große liberale Publizist Walter Lippman in seinem Buch Liberty and the News kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Lippmann war entsetzt darüber, wie korrumpierbar sich die amerikanische Presse während des Krieges gezeigt hatte und kam zu dem Schluss: "In einem exakten Sinne ist die gegenwärtige Krise der westlichen Demokratie eine Krise des Journalismus."

Journalismus in der Krise: Die Krise spielt sich nicht nur an der Börse ab - im exakten Sinne ist sie eine Krise des Journalismus.

Die Krise spielt sich nicht nur an der Börse ab - im exakten Sinne ist sie eine Krise des Journalismus.

(Foto: Foto: ddp)

Heute wird Walter Lippmann in Amerika wieder viel zitiert. Er lieferte Argumente für alle, die die Rolle der großen US-Medien beim Marsch in den Irak-Krieg kritisierten. Und nun wird Lippmann zum Kronzeugen, wenn es um das tatsächliche oder vermeintliche Versagen des Wirtschaftsjournalismus in den Jahren vor der großen Finanz- und Wirtschaftskrise geht. Dean Starkman, Herausgeber eines medienkritischen Online-Dienstes der Columbia-Universität, meint: Zwar sei die Wirtschaftspresse weder korrupt noch manipuliert, wie es die Zeitungen vor neunzig Jahren waren. "Aber trotzdem haben wir es mit einer ramponierten und geschlagenen Institution zu tun, deren Erfolg und Ansehen während der letzten zehn Jahre geschwunden sind - in einer Zeit also, in der die Institutionen, über die die Wirtschaftspresse berichtet, die Welt regieren und die Regierungen in die Knie gezwungen haben." Die Presse leide nun unter einer Art "Stockholm-Syndrom", behauptet Starkman.

Neoliberaler Rausch

Eine steile These, schließlich leitet sich der Begriff von einem Banküberfall mit Geiselnahme 1973 in Stockholm ab. Damals hatten sich die Geiseln emotional mit den Geiselnehmern identifiziert, nicht mit der Polizei. Die Geiselnehmer von heute heißen, folgt man Starkman, Goldman Sachs, Citigroup, AIG, Deutsche Bank, JP Morgan. Hat der Wirtschaftsjournalismus versagt? Haben die Reporter und Redakteure vernachlässigt, wofür sie bezahlt werden: Missbräuche aufdecken, vor Gefahren warnen, die Mächtigen kritisieren?

Die Debatte ist unvermeidbar und notwendig in einer Wirtschaftskrise, die in ihrer Dimension niemand vorausgesehen hatte. Sie wird in den Vereinigten Staaten ebenso heftig geführt wie in Deutschland, wobei es im Detail aber Unterschiede gibt. Deutsche Kritiker werfen den Wirtschaftsjournalisten meist vor, nicht die richtigen Meinungen vertreten zu haben. Die Branche habe sich "seit Jahren in einer Art neoliberalen Rausch" befunden, befand zum Beispiel Siegfried Weischenberg, Professor für Journalismus an der Universität Hamburg. In den USA lautet der Vorwurf dagegen, die Presse habe nicht die richtigen Fakten berichtet.

Vorne ist es laut und plakativ

Dean Starkman versuchte, seine These vom Stockholm-Syndrom mit einer umfangreichen Statistik zu belegen. Er sammelte 650 Artikel aus großen Zeitungen, die zwischen dem 1. Januar 2000 und dem 30. Juni 2007 über die Praktiken auf dem Hypothekenmarkt und die Verstrickung der Wall Street erschienen sind. Sein Ergebnis: Ja, es gab viele kritische Berichte. Aber sie kamen meist leise und vorsichtig daher und erschienen auf den hinteren Seiten. Vorne dagegen wurden laut und plakativ Banker wie Ken Lewis (Bank of America) oder Richard Fuld (Lehman Brothers) gefeiert. "Die Wirtschaftspresse ist ein Wachhund, der nicht gebellt hat", sagt Starkman.

Fragt man genauer nach, relativiert der Autor sein hartes Urteil. Erstens gab es löbliche Ausnahmen: Im Februar 2005 etwa berichtete die Los Angeles Times ausführlich und prominent über die Praktiken von Ameriquest, einer der übelsten Hypothekenbanken in Kalifornien. Der Beitrag führte zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und zu einem teuren Vergleich für Ameriquest. Die Bank gibt es heute nicht mehr. Zweitens, und wichtiger: Die Zeitungen veröffentlichten in der Frühzeit des Immobilienbooms 2001 bis 2003 sehr viele kritische Artikel. Erst danach schien die Kritikbereitschaft nachzulassen. Dies Muster hat etwas damit zu tun, dass auch die öffentliche Wahrnehmung, ähnlich wie die Börse, Zyklen unterliegt.

Gefahr der Verherrlichung

Jeff Madrick, Herausgeber des Challenge Magazine, beschreibt den Mechanismus so: "Du schreibst: Die Immobilienpreise sind zu hoch und werden bald sinken. Tatsächlich steigen sie aber weiter. Dann schreibst du nochmals, dass die Preise nun wirklich bald sinken müssen, nur um zu beobachten, dass sie weiter steigen. Irgendwann glaubt dir keiner mehr und du gibst auf." Will sagen: Die Reporter haben vor vielen Gefahren rechtzeitig gewarnt, sich aber dann, als nichts passierte, anderen Themen gewidmet. Wenn der Himmel strahlend blau ist, wirkt jeder, der vor einer Hochwasserkatastrophe warnt, ein wenig lächerlich.

Dieses Wahrnehmungsproblem ist nicht zu unterschätzen. Viele Journalisten schrieben früh über die globalen Ungleichgewichte, die zu der Krise beigetragen haben. Aber "globales Ungleichgewicht" war ein ziemlich abstrakter Begriff, solange die konkrete Anschauung der Krise noch fehlte, und nicht geeignet, Zeitungsleser und Fernsehzuschauer aufzurütteln.

Missbräuche auf den Finanzmärkten

Gretchen Morgenson, ehemalige Börsenmaklerin und Finanz-Kolumnistin der New York Times, hat zum Beispiel auch schon zur Unzeit vor Missbräuchen auf den Finanzmärkten gewarnt und wurde dafür 2002 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sie habe in der Redaktion nie Widerstand gegen ihre Geschichten erfahren, sagt sie, aber sie sei gelegentlich belächelt worden: "Es war eher so, dass man sagte: Ach du wieder, du siehst das Glas immer halb leer."

Dean Starkman hat allerdings auch noch eine andere Erklärung für das langsame Verstummen der Kritik. Er war selbst bis 2005 Reporter des Wall Street Journal und beobachtete einen "tiefgreifenden Wandel der Kultur" in den Finanzredaktionen: "Man hat den investigativen Journalismus vernachlässigt zugunsten des Versuchs, möglichst viele Exklusivgeschichten zu bringen." Wer exklusive Firmennachrichten haben will, brauche Zugang zum Management und sei deshalb weniger geneigt, unbequeme Geschichten zu veröffentlichen. "Er wird nicht gerne die Brücken zu seiner nächsten Geschichte abbrennen." Gretchen Morgenson versucht daher gar nicht erst, für ihre Geschichten bei den Chefs selbst zu recherchieren. "Die sind von Ja-Sagern umgeben und schlagen zurück, wenn sie kritisiert werden." Fatal ist dabei die zunehmende Fixierung der Presse auf Personen, die "Verherrlichung" der Unternehmenslenker, wie Morgenson sagt.

Und nicht zu vergessen: die Medienkrise. Den amerikanischen Zeitungen laufen Leser und Anzeigenkunden davon. Im Internet wird kein Geld verdient, in vielen angesehenen Zeitungen wie der Washington Post und der Los Angeles Times sind die Wirtschaftsredaktionen nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das muss nicht notwendigerweise die Qualität der Berichterstattung einschränken, wohl aber ihren Umfang. Der Wirtschaftsjournalismus hat nicht nur ein Glaubwürdigkeitsproblem, er ist auch aus ökonomischer Not auf dem Rückzug.

Das Problem sind die Fakten

Auch sonst ist das Problem der Wahrheitsfindung nicht unbedingt einfacher geworden. Heute wird nicht mehr in den Banken über die Zukunft entschieden, sondern in den Regierungen. Finanzhauptstadt der Welt ist nicht mehr New York, sondern Washington. Und Politiker sind als Informationsgeber nicht minder problematisch als Bankchefs. Gretchen Morgenson glaubt, dass Washington sogar mit der Wahrheit noch restriktiver umgeht als die Wall Street, auch und gerade unter der neuen Regierung. "Obama redet zwar immer von einer transparenten Regierung, aber wenn es konkret wird, heißt es: Radio Schweigen."

Was sind die Konsequenzen aus der Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus? Zunächst einmal sollte man akzeptieren, dass das Problem die Fakten sind, nicht die Meinungen. Bei letzteren kommt es auf die Vielfalt an, und Deutschland hat nun wahrlich keinen Mangel an antikapitalistischen Kommentaren. Woran es fehlte, war eine konstante, hartnäckige Berichterstattung über die Entwicklung der Finanzmärkte, vermutlich auch ein Mangel an Verständlichkeit und Detailgenauigkeit. In Deutschland mag auch noch dazukommen, dass die Tradition populärer Finanzberichterstattung noch sehr jung ist. Wenn man diese Voraussetzungen akzeptiert, kann der Schluss nur heißen: nicht weniger, sondern mehr Finanzjournalismus; außerdem eine gründlichere Ausbildung der Journalisten in Finanzdingen.

Bei einer Diskussion an der Columbia-Universität zur Zukunft des Wirtschaftsjournalismus kam es zu einer kleinen Episode, die in Deutschland kaum vorstellbar wäre. Auf dem Podium saß William Ackman, Gründer der Finanzfirma Pershing Square Capital Management. Ackman begründete seinen Erfolg mit Leerverkäufen, also mit Spekulationen auf sinkende Aktienkurse. In den kapitalismuskritischen Debatten Deutschlands gelten Leerverkäufer gelegentlich als die bösen Buben schlechthin, als gierige Burschen, die versuchen, an der Not anderer zu verdienen. Anders in Columbia: Ackman fand allgemeine Zustimmung mit dem Satz: "Leerverkäufer und die Presse sollten eigentlich dicke Freunde sein." Ein Investor, der auf sinkende Kurse spekuliert, ist immer an Fakten interessiert, die unbequem für ein Unternehmen sind - genau so, wie es Journalisten auch sein sollten. Ackman schlug vor, in den Redaktionen eine Art institutionellen Leerverkäufer einzustellen, "einen Journalisten, der immer die Gegenposition vertritt". Eigentlich keine schlechte Idee, auch außerhalb von Wirtschaftsredaktionen.

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