Süddeutsche Zeitung

Opioid-Krise in den USA:Ein Signal an die Pharmaindustrie

  • Ein Gericht in Oklahoma hat den Pharmakonzern Johnson & Johnson zu einer Strafe von umgerechnet 515 Millionen Euro verurteilt.
  • Der Konzern und diverse weitere aus der Pharmaindustrie sollen schuld sein an der Sucht vieler Amerikaner nach Schmerzmitteln.
  • Das Urteil könnte den Weg für rund 2000 ähnliche Klagen weisen, die Bundesstaaten sowie Regional- und Lokalverwaltungen eingereicht haben.

Von Elisabeth Dostert

Die Summe klingt nicht sonderlich hoch. Was sind schon gut 515 Millionen Euro Strafe für den Pharmakonzern Johnson & Johnson im Vergleich zu den Milliarden-Urteilen, die US-Richter gegen die Bayer-Tochter Monsanto wegen des Unkrautvernichters Glyphosat verhängten? Aber das Urteil, das in der Nacht zum Mittwoch ein Gericht im Bundesstaat Oklahoma fällte, ist eine Botschaft. Pharmakonzerne wie Johnson & Johnson sollen schuld sein an der Sucht vieler Amerikaner nach Schmerzmitteln. Tausende Menschen starben. Die Konzerne sollen nicht ungeschoren davonkommen, das ist die Botschaft. Dennoch könnte das Urteil den Weg für rund 2000 ähnliche Klagen weisen, die Bundesstaaten sowie Regional- und Lokalverwaltungen eingereicht haben. Sie fordern viele Milliarden Dollar von den Pharmakonzernen, weil sie mit ihrem "rücksichtslosen" Marketing für ihre Medikamente die öffentliche Ordnung gefährdeten, so der Vorwurf der Kläger.

"Die Opioidkrise hat den Staat Oklahoma erschüttert. Das muss aufhören", hatte Richter Thad Balkman schon vor dem Urteil gesagt. Das Gericht in Cleveland County verhängte gegen Johnson & Johnson eine Geldstrafe von 572 Millionen Dollar, umgerechnet 515 Millionen Euro. Das Geld muss der größte Pharmakonzern der Welt an den Bundesstaat Oklahoma zahlen. Johnson & Johnson und die Tochterkonzerne wollen gegen das Urteil Berufung einlegen. Die Strafe ist doppelt so hoch, wie die Vergleiche, die Oklahoma bisher mit anderen Konzernen schloss: Der US-Schmerzmittelhersteller Purdue soll 270 Millionen Dollar zahlen, der israelische Konzern Teva 85 Millionen Dollar. Opioide ist der Sammelbegriff für Substanzen mit morphinähnlicher Wirkung. Die "irreführende Werbung" für seine Schmerzmittel habe zu einer Belastung der Öffentlichkeit geführt, kritisierte Richter Balkman den Konzern.

Allein in Oklahoma sind nach Angaben von Generalstaatsanwalt Mike Hunter zwischen 2007 und 2017 mehr als 4600 Menschen an einer Schmerzmittelüberdosis gestorben. Johnson & Johnson sei von "Raffgier" getrieben gewesen, beschuldigte er den Konzern und die zwei früheren Töchter Noramco und Tasmanian Alkaloids. "Johnson & Johnson wird endlich zur Rechenschaft gezogen für Tausende Todes- und Suchtfälle, die durch die Handlungen des Unternehmens verursacht wurden", sagte Hunter. Er hatte mehr als 17 Milliarden Dollar gefordert. Johnson & Johnson hat die Vorwürfe, über Jahre die Risiken für süchtigmachende Schmerzmittel in seinen Marketingkampagnen verharmlost zu haben, stets zurückgewiesen. Eine Anwältin des Konzerns bezeichnete das Urteil als fehlerhaft. Der Konzern habe Mitgefühl mit Menschen, die von Schmerzmitteln abhängig seien, aber "man kann sich nicht aus der Opioidkrise herausklagen", sagte Anwältin Sabrina Strong nach dem Urteil.

Das Verfahren in Oklahoma ist das erste, in dem diese Strategie aufging

Zwar fiel das Urteil deutlich geringer aus, als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Aber es sei keine gute Nachricht für die Hersteller und Händler von Opioiden, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg den auf Produkthaftungsklagen spezialisierten Juristen Richard Ausness, der an der University of Kentucky lehrt. Alle Bundesstaaten und Kommunen berufen sich in ihren Klagen auf Gesetze, die die öffentliche Ordnung schützen sollen. Das Verfahren in Oklahoma ist das erste, in dem diese Strategie aufging. Es stimmt die Anwälte andere Städte und Kommunen optimistisch. Sie sehen in dem Urteil zugunsten des Bundesstaates ihren Vorwurf bestätigt, dass Opioide die öffentliche Gesundheit gefährdeten. Laut Bloomberg werfen die Anwälte Herstellern und Händlern wie Johnson & Johnson, Endo International, McKesson und Cardinal Health vor, die Risiken der Einnahme von Schmerzmitteln zu verharmlosen und die Vorzüge zu übertreiben. Damit, so der Vorwurf, hätten sie eine Epidemie ausgelöst, der jeden Tag mehr als 100 Menschen in den USA zum Opfer fielen.

Die Berufung auf Gesetze zum Schutz der Öffentlichkeit erleichtert Bundesstaaten und Kommunen in den USA eine Klage. Sie müssen nicht jedem einzelnen Arzt nachweisen, dass er oder sie zu viele Schmerzmitteln verschrieben hat. Stattdessen können sich die Verwaltungen auf Experten berufen, die nachweisen, dass das Marketing der Konzerne irreführend gewesen sei und zu einem Anstieg der Suchterkrankungen und einer häufig tödlichen Überdosierung führten. Die Strafsumme im Fall Oklahoma sei zweitrangig, zitiert Bloomberg den Wirtschaftsprofessor Thomas Cooke von der Georgetown University in Washington. "Die Entscheidung ist grünes Licht für alle Kläger, die sich auf eine Störung der öffentlichen Ruhe berufen."

Mit Material der Agenturen.

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