Japan nach dem Tsunami:Angst um Tokios Schicksal

Zwischen Kobe und Tschernobyl: Experten spielen auf der Anlegermesse Invest die Szenarien für die Märkte durch. Sie sind überwiegend optimistisch.

Schuldenkrise in Europa, Krieg in Libyen und obendrauf noch die Atomkatastrophe in Japan. Die schlechten Nachrichten reißen nicht ab, und angesichts des Ausmaßes der Bedrohung durch die angeschmolzenen Brennstäbe im Atomkraftwerk von Fukushima fällt es selbst erfahrenen Experten nicht leicht, nüchtern die Auswirkungen der Geschehnisse auf Weltkonjunktur und Börsen zu beleuchten. Auf der Anlegermesse Invest in Stuttgart haben sie es dennoch versucht - und sind in Interviews mit der SZ zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen gekommen.

"Im besten Fall wird es einen Kobe-Effekt geben, der Wiederaufbau wird nur länger dauern als damals und teurer werden", meint Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Nach dem Beben in der japanischen Industriestadt Anfang 1995 hatte es gerade einmal vier Wochen gedauert, bis die Produktion in der 1,5- Millionen-Einwohner-Stadt wieder voll lief. Die Naturkatastrophe sorgte am Ende sogar für einen extra Konjunkturschub. Aber es gibt auch den schlimmsten Fall, an den Krämer gar nicht denken mag: die Verstrahlung der 35-Millionen-Metropole Tokio. Wenn es nicht gelänge, den atomaren Super-GAU zu verhindern, wenn Wind und Wetter eine radioaktive Wolke ins Denk- und Lenkzentrum der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt schicken würden, sähe die Welt anders aus. "Die Folgen eines solchen Tschernobyl-Szenarios wären dramatisch und beispiellos", sagt Krämer.

Am Wochenende richtete sich die Hoffnung der Bevölkerung unter anderem auf 50 Feuerwehrmänner aus Osaka, die mit langen Wasserschläuchen nach Fukushima aufgebrochen waren, um unter Einsatz ihres Lebens die defekten Reaktorblöcke vorübergehend händisch zu kühlen, bis die Stromversorgung wieder voll funktioniert. Ihr Erfolg ist ungewiss.

Also doch besser vorsorglich noch aussteigen an den Börsen? In der vergangenen Woche waren sich die Anleger genauso unschlüssig darüber, wie die Atomexperten, die bangten, ob sie die Lage noch in den Griff bekommen können. Mit jeder negativen Nachricht stürzten die Aktienkurse ab und sie erholten sich, wenn es Zeichen der Hoffnung gab. Japans Notenbank jedenfalls ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Finanzmärkte stützen wird: Sie flutete den Markt mit der enormen Summe von 340 Milliarden Euro. Die führenden Industriestaaten trugen mit Yen-Verkäufen gleichfalls dazu bei, den Höhenflug der Währung zu stoppen.

"Jetzt noch aus Aktien auszusteigen, hat keinen Sinn. Das hätte man früher tun müssen", meint Commerzbank-Experte Krämer. Insbesondere deutsche Aktien hält er mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von weniger als zehn für "sehr günstig". Krämer setzt bei dieser Einschätzung voll auf den Kobe-Effekt und die Kraft Japans, mit der Katastrophe fertig zu werden. Zwar sei das Land hoch verschuldet, aber vor allem bei seiner eigenen Bevölkerung, die jetzt Geld aus dem Ausland abziehe, um es für den Wiederaufbau zur Verfügung zu haben.

Der Kobe-Effekt

Ins gleiche Horn bläst auch Folker Hellmeyer im SZ-Interview: "Der Aktienmarkt ist im Moment paralysiert. Die Bewertung deutscher Aktien ist viel zu niedrig", sagt der Chefvolkswirt der Bremer Landesbank. Anders als Krämer wagt Hellmeyer auch eine ökonomische Prognose für den schlimmen Fall einer Verstrahlung Tokios. "Die Weltwirtschaft würde dann in diesem Jahr um einen Prozentpunkt weniger wachsen. Aber sie würde wachsen, denn die wesentlichen Treiber sind die Schwellenländer, die allein die Hälfte des weltweiten Wachstums beisteuern", ist Hellmeyer überzeugt. Auch im Unglücksfall käme Deutschland glimpflich davon, das vor allem Industriegüter für die Schwellenländer produziere, nicht aber für Japan.

Erheblicher Druck

Alexander Seibold kann diesen Optimismus nicht teilen. Er rät auf der Anlegermesse explizit, auszusteigen. "Der Abwärtstrend an den Märkten ist noch nicht zu Ende", sagt der Geschäftsführer der gleichnamigen Vermögensverwaltung im Gespräch. "Wir haben eine Aktienquote von Null", verrät er die Strategie seiner eigenen Vermögensverwaltung. Per saldo beläuft sich der Wochenverlust des Dax nach den Erdbeben und dem Tsunami auf knapp fünf Prozent, verglichen mit rund zehn Prozent in Japan selbst.

"Die Katastrophe in Japan hat die Märkte bislang nicht nachhaltig negativ beeinflusst, weil die meisten Aktieninvestoren schlicht keine Verluste machen wollten. Sie haben deshalb in die fallenden Kurse hinein nachgekauft, was den Gesamtmarkt sehr schnell stabilisiert hat", berichtet Verhaltensforscher Joachim Goldberg der SZ von seinen Beobachtungen zum Anlegerverhalten in den vergangenen Tagen. Wie lange dieser Grundoptimismus die schlimmen Nachrichten aus Japan überlagern kann, kann der Geschäftsführer der Analysegesellschaft Cognitrend freilich nicht deuten.

Seibold rechnet unterdessen mit weiteren Korrekturen. "Wir werden noch erheblichen Druck auf die Kurse bekommen. Die Börsen werden ja nicht nur durch das Thema Japan belastet, sondern auch durch die Unruhen in Nordafrika und die europäische Schuldenkrise." Gold, Silber und kurzfristige Rentenpapiere hält er für geeignete Geldparkplätze für Anleger, die ihr Erspartes nach dem Ausstieg aus Aktien nicht einfach herumliegen lassen wollen. "Erst im vierten Quartal" rechnet Seibold mit einer Kehrtwende an den Börsen.

Schwierige Energie

Vor allem Energiewerte wie Eon und RWE, bislang nicht zuletzt wegen ihrer hohen Dividendenrenditen eine sichere Bank im Portfolio der Anleger, halten manche Fachleute nach dem Atomunfall nun plötzlich für eine riskante Angelegenheit. "Energieversorger wie Eon und RWE sind zum Schlachtvieh des deutschen Staates geworden", meint Philipp Vorndran, Anlagestratege bei Flossbach & von Storch, einer der großen fünf unabhängigen Vermögensverwaltungen im Land. Nun würden sich die wahren Kosten der einst als billig und sauber gefeierten Atomenergie in den Börsenwerten dieser Konzerne niederschlagen, prophezeit Vorndran, der Sondersteuern und Abgaben zur Förderung alternativer Energien für wahrscheinlich hält. Die Energieriesen büßten allein schon durch die in der vergangene Woche von der Bundesregierung verordnete Stilllegung veralteter Reaktoren Milliarden ein.

Aktionäre haben 2011 bisher als Jahr der Extreme erlebt. Im Januar und Februar gab es eine Rally, die kaum jemand erwartet hatte. Der Dax, der sich von September bis Jahresende schon von 6000 auf 7000 Punkte hochgeschraubt hatte, kletterte immer weiter und weiter, bis auf 7424 Punkte Ende Februar, den bisherigen Höchststand. Innerhalb eines halben Jahres hatte das Börsenbarometer um fast ein Viertel zugelegt, bevor die Korrektur einsetzte.

Börsenexperten warnten schon vor Erdbeben und Tsunami zahlreich vor großen "Rückschlaggefahren" und "technischen Korrekturen" am Aktienmarkt. Was dann aber an negativen Ereignissen folgte, ist in dieser Ansammlung fast ohne Beispiel. Es fing an mit den Aufständen in den arabischen Staaten und dem starken Anstieg des Ölpreises. Dann kündigte die Europäische Zentralbank (EZB) eine Zinserhöhung für April an, um Inflationsgefahren einzudämmen - ein Schritt, der Aktien im Vergleich zu festverzinslichen Papieren an Attraktivität verlieren lässt. Commerzbank-Volkswirt Krämer rechnet fest damit, dass die EZB trotz der jüngsten Ereignisse an diesem Vorhaben festhält. "Der Ruf der Europäischen Zentralbank hat nach den Aufkäufen von Staatsanleihen gelitten", so Krämer. Eine Abkehr von der als notwendig empfundenen Leitzinswende könne da nur noch mehr schaden. An den Anleihemärkten ziehen die Renditen schon seit längerem an; dort wurden die geldpolitische Maßnahme vorweggenommen.

Lässt sich die Atomgefahr bannen, werden sich die Prognosen der Ökonomen bald auf die Folgen der nötigen Programme zum Wiederaufbau konzentrieren. "Es wird ein gewaltiges Aufbauprogramm für etwa 200 Milliarden Euro geben", meint Gottfried Heller, Chef der Vermögensverwaltung Fiduka.

Wenn sich die Lage in Japan entspannt, wird auch an den Börse große Erleichterung einkehren. Dann allerdings dürfte sich der Blick der Anleger auf andere Risiken richten: Die Geldentwertung etwa, beflügelt durch "das unaufhörliche Gelddrucken von Notenbanken", so Anlagestratege Vorndran.

"Die Inflation wird wahrscheinlich noch steigen, weil die Notenbanken wegen der kritischen Situation an den Märkten nicht überall mit höheren Zinsen dagegen ankämpfen können", prognostiziert Heller. Wie stark Anleger unter dem Verlust der Kaufkraft leiden, haben sie teilweise selbst in der Hand. Die Vermögensverwalter Vorndran und Seibold raten, mehr Sachwerte anstelle zu vieler Staatsanleihen ins eigene Portfolio zu legen. Dazu gehören neben Immobilien und Edelmetallen vor allem Aktien.

Von Simone Boehringer, Harald Freiberger, Catherine Hoffmann und Markus Zydra

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: