Süddeutsche Zeitung

Inflation:Alles gut in Japan? Von wegen

Japan wirkte lange wie ein seliger Inselstaat. Doch seit Russland die Ukraine angegriffen hat, bangt das Land um sein Gleichgewicht. Die Inflation steigt, die Menschen klagen - und der Yen fällt und fällt und fällt.

Von Thomas Hahn, Tokio

In Nishitokyo ist die Welt nicht unbedingt schön, aber in Ordnung. Die Stadt fügt sich nahtlos ins riesige, ruhige Dächermeer der nach Westen hin ausufernden Metropol-Region Tokio. Verbaute Häuser, dicht gedrängte Läden. Die Ukraine, der Krieg, eigentlich jede Art von Konflikt sind weit weg. Wenn die Schaffner morgens am Bahnhof Hoya die Pendler auch mal mit Kraft in die überfüllten Züge drücken, hat das zwar etwas Gewaltsames. Aber selbst das geschieht im Einklang mit der nationalen Einsicht, dass alles eben irgendwie reinpassen muss. Die maskentragende Masse eilt friedlich durch das saubere, zugestellte Alltagsgrau, und im 24-Stunden-Supermarkt sind die Regale immer voll mit Reis, Fisch, Miso und was die hiesige Küche halt so braucht. Alles gut in Japan.

Trotzdem kann Sakie Aida, eine Kindererzieherin Mitte 60, nicht sagen, dass sie den Krieg der Russen gar nicht spürt. Sie steht mit ihrem Einkaufskorb bei den Orangen und sagt: "Ich merke, dass das Gemüse teurer wird." Außerdem sei in den Plastikpacks neuerdings weniger drin. "Zum Beispiel bei Zwiebeln und Kartoffeln." Sakie Aida wohnt mit ihrem Mann allein, deshalb stört sie das noch nicht sehr. "Aber für eine größere Familie ist das wahrscheinlich schwierig."

Japan, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, wirkte lange wie ein seliger, etwas weltvergessener Inselstaat. Solide werkelte er vor sich hin, wuchs kaum, war aber auch nicht unzufrieden. Japan profitierte von Rekordschulden in der eigenen Währung, von einer homogenen Nationalwirtschaft sowie von der ultralockeren Geldpolitik, welche die Zentralbank im Schulterschluss mit der rechtskonservativen Regierung betrieb. Und in der Pandemie war Japan so ausgeglichen wie kein anderer G-7-Staat durch seine geschickt ausbalancierte Politik aus geschlossenen Grenzen und Vertrauen in die Regeltreue der heimischen Kollektivgesellschaft. Die Preise im Land waren deshalb noch halbwegs stabil, als Corona in den USA und Europa schon kräftig die Inflation anfachte.

Aber seit Russland die Ukraine angegriffen hat, muss auch Japan um sein Finanzgleichgewicht bangen. Im April sprang die Inflationsrate auf 2,1 Prozent, nachdem sie im Januar noch bei 0,5 gelegen hatte. Die Energie- und Lebensmittelpreise steigen. Japans Bauern klagen, weil Düngemittel teurer werden. Und der Yen fällt und fällt. Vergangene Woche stand er so niedrig wie seit 24 Jahren nicht mehr. Weil Energie für Japan in erster Linie ein Importprodukt ist, erhöht das zusätzlich den Kostendruck für die Normalmenschen. Frank Rövekamp, Leiter am Ostasieninstitut der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen, sagt: "Japan hat ein echtes Problem."

Alle haben ein echtes Problem. Japan geht es im Grunde sogar besser als Amerika und Europa, weil die Inflationsrate hier eben erst knapp über zwei Prozent liegt. Allerdings wirkt Japan gerade wie ein Gefangener seiner eigenen Courage.

Das Land ist unter den industrialisierten Nationen der Vorreiter einer radikalen Niedrigzinspolitik. Die Federal Reserve in Washington und die Europäische Zentralbank in Brüssel fuhren gut damit, dem Beispiel der Bank of Japan (BOJ) in Tokio zu folgen, auch wenn sie ihre Geldpolitik nie so extrem lockerten wie die Japaner die ihre. Aber in der Krise rücken Amerikaner und Europäer davon ab, immer mehr Geld ins System zu pumpen. Um die Inflation zu bändigen, haben beide Notenbanken deutliche Erhöhungen des Leitzinses angekündigt. Die BOJ dagegen macht weiter wie bisher. Sie kann nicht anders.

Die BOJ geht davon aus, dass die hohe Inflation nur ein vorübergehendes Phänomen ist

Seit der damals neu gewählte Premierminister Shinzo Abe 2012 seine sogenannte Abenomics-Politik einführte, bewegt sich Japan im Takt eines fast märchenhaften Geldbeschaffungsprogramms für die heimische Wirtschaft. Seither kauft die Zentralbank konsequent Staatsanleihen von Geschäftsbanken und anderen Finanzinstitutionen, unterstützt so Kredite zu extrem niedrigen Zinsen und hält indirekt den Staat flüssig. Derzeit liegt der Leitzins von Japan knapp im negativen Bereich, bei -0,1 Prozent. Dieses Konzept des fast beliebigen Gelddruckens und Schuldenmachens funktionierte.

Es hat nur einen Haken: Der Anteil der Zentralbank an der Staatsverschuldung ist in Japan extrem hoch. Die BOJ hält - Stand Dezember 2021 - 43 Prozent aller japanischen Staatsanleihen. Schulden finanzieren aber neben Steuern fast die Hälfte des japanischen Staatshaushalts. Dieser Staatshaushalt wiederum trägt nicht nur die Kosten für die Sozialsysteme, Bildung, Verteidigung und so weiter. Sondern auch die Zinsen der Staatsschulden. "Jetzt stellen Sie sich mal vor, die Zinsen gehen hoch in Japan, zum Beispiel auf ein Prozent wie in Deutschland", sagt Rövekamp, "dann explodiert auf der Ausgabenseite dieser Zinsposten."

Das Finanzministerium in Tokio hat dazu im Januar eine Hochrechnung veröffentlicht: Demnach würden die Zinsen den Steuerzahler im Fiskaljahr 2025 28,8 Billionen Yen statt wie dieses Jahr 24,3 Billionen Yen kosten, falls die Zinsen auf Staatsanleihen auf 1,3 Prozent steigen sollten. In den Folgejahren wären die Steigerungen dann noch viel heftiger, wenn immer mehr billige alte Staatsanleihen auslaufen und durch neue teurere ersetzt werden müssten.

Das kann die BOJ nicht zulassen. Gleichzeitig wird der Dollar teurer. Der Yen verliert an Wert. "Es ist notwendig, die Entwicklungen auf den Finanz- und Auslands-Devisenmärkten und ihre Auswirkung auf Japans wirtschaftliche Aktivität und Preise im Auge zu behalten", heißt es im jüngsten Positionspapier der BOJ zur Geldpolitik. Aber eigentlich geht sie davon aus, dass die hohe Inflation nur ein vorübergehendes Phänomen ist.

Typisch Notenbank. Optimismus ist Teil ihres Geschäfts. Ökonom Rövekamp und andere sind skeptisch. Der Krieg dauert an, die Energie- und Lebensmittelkrise hat erst begonnen. Und Japan startet nicht gerade mit Tempo in die nachpandemische Zukunft. Nur zögerlich öffnet die Regierung von Premierminister Fumio Kishida zum Beispiel die Grenzen für den Auslandstourismus, vor Corona eine Boom-Branche. Und der "neue Kapitalismus", den Kishida schon vor seiner Wahl im Oktober 2021 ankündigte, wirkt vorerst wie ein eher altbackenes Konzept für etwas mehr Wirtschaftsregulierung und Umverteilung.

Frank Rövekamp ist mit Blick auf Japan trotzdem etwas optimistischer als mit Blick auf Europa. Denn in Japans Kollektivgesellschaft ist man es gewohnt, Ansprüche zurückzuschrauben und Härten zu schlucken. Zum Beispiel helfen schon jetzt Seniorinnen und Senioren ihrem überalterten Staat, die Sozialausgaben zu dämmen, indem sie noch mit über 70 arbeiten. "Die Japaner kommen in Schwierigkeiten, aber sie werden mit diesen Schwierigkeiten umgehen, ohne dass es zu ganz großen Verwerfungen kommt", sagt Rövekamp, "sie werden einfach den Gürtel enger schnallen."

Das würde Sakie Aida in Nishitokyo tatsächlich tun. Wegen der Gesundheit ihres Mannes haben sie kein Auto mehr, die Benzinpreise können ihnen also egal sein. Aber der Strom wird teurer, klar. Sakie Aida überlegt. An der Klimaanlage zu sparen sei schwierig wegen des schwülen Sommers. Am Reisen können sie nicht sparen, weil sie ohnehin schon lange nicht mehr weggefahren sind. "Vielleicht kann ich an der Kleidung sparen", sagt Sakie Aida etwas ratlos. Das Problem dürften viele Menschen in Japans Inflation haben: Noch sparsamer können sie kaum sein.

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