Es ist ein karges, entbehrungsreiches Leben, das der Gast aus Europa seinen Zuhörern da schmackhaft zu machen versucht. Politischer Fortschritt ist demnach nur möglich, wenn die handelnden Akteure permanent unter Druck gesetzt werden. Glück ist, wenn es gelingt, eine kaum noch überschaubare Zahl an Regeln einzuhalten. Und Krisen sind gut, denn sie erzwingen den Wandel.
Wie wohltuend, wie erfrischend, wie belebend klingt da doch die Botschaft, die nur gut eine Stunde später durch denselben kleinen Saal des Washingtoner Brookings-Instituts weht. Von der wunderbaren Kraft der Demokratie spricht der zweite Stargast des Tages, von Freiheit und von Selbstbestimmung. Freundliches Raunen im Publikum: "Hier in Washington", sagt ein ergriffener Zuhörer an den Redner gewandt, "haben Sie ein Heimspiel."
Der Charme des bezaubernden Raubeins
Vielleicht konnten die Brookings-Chefs vor Wochen ihr Glück selbst kaum fassen, als es ihnen gelungen war, Wolfgang Schäuble und Yanis Varoufakis, die Protagonisten jenes nicht enden wollenden griechischen Dramas, für ein und denselben Tag als Redner zu verpflichten. Ein gemeinsamer Auftritt der beiden hätte dem ganzen die Krone aufgesetzt. Aber das bekamen nicht einmal die so energischen Amerikaner hin. So also werden es zwei identische Veranstaltungen binnen drei Stunden - in derselben Kulisse, mit denselben Menschen auf dem Podium, nur mit unterschiedlichen Hauptdarstellern.
Den Schönheits- und Sympathiepreis des Publikums gewinnt einmal mehr der eloquente Grieche mit seinem Mix aus entwaffnender Dreistigkeit und dem Charme des bezaubernden Raubeins. Und doch ist es am Ende so, wie es fast immer läuft: Den Tagessieg fährt sein deutscher Amtskollege ein. Denn nur einen Steinwurf entfernt hat Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), gerade verkündet, dass sie den Bitten des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras nach einer Stundung von IWF-Darlehen leider nicht nachkommen kann. Die Gefahr, dass der Athener Regierung das Geld ausgeht, bevor sie sich mit den Euro-Partnern und dem Währungsfonds auf die Bedingungen für die Auszahlung weiterer Kredite geeinigt hat, wächst damit weiter.
Einmal mehr überschattet die Griechenland-Krise die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank, die an diesem Wochenende in der US-Hauptstadt stattfindet. Auf den Fluren und in den Hinterzimmern werden Optionen erwogen, Alternativen eruiert, mögliche technische Abläufe debattiert - einen echten Plan B aber für den Fall, dass Athen tatsächlich pleite geht, hat niemand. Schäuble nicht, Lagarde nicht und auch Varoufakis nicht.
Der griechische Finanzminister warb am Rande des Wirtschaftsgipfels eindringlich um Verständnis für seine Position. Dass er sich Rand einer Veranstaltung zum Unabhängigkeitstag seines Landes im Weißen Haus auch mit US-Präsident Barack Obama traf, zeigt, wie ernst die Lage ist. Varoufakis soll den Staatschef in einem kurzen Gespräch gebeten haben, weiter Druck auf die Europäer zu machen, eine Verhandlungslösung mit den Griechen zu suchen. Er sei einig mit Obama gewesen, dass alle Seiten mehr Flexibilität zeigen müssten, meinen Beobachter.
Doch wie soll das gehen? Schließlich war und ist die Insolvenz oder gar das Ausscheiden eines Landes aus der Euro-Zone in keiner Blaupause, keinem Vertrag, keinem Planspiel vorgesehen. Entsprechend hilflos ist man jetzt: Jede Überlegung, wie es wohl laufen könnte, eröffnet neue Szenarien, von denen sich jedes in weitere Verästelungen verliert. Am Ende bräuchte es mehr Pläne, als das Alphabet Buchstaben hat.
Weil man inhaltlich nicht vorankommt, begnügen sich Schäuble und Varoufakis mit einem Wettbewerb um die Gunst der Weltgemeinschaft. Der Bundesfinanzminister versucht es mit der Kraft der Argumente und verweist darauf, dass die vorübergehende Kreditvergabe an ein Land ja nur Sinn ergebe, wenn die betroffene Regierung die gewonnene Zeit nutze, um die Ursachen der Krise zu beseitigen. Die meisten seiner Zuhörer überzeugt er damit nicht, sie halten den Berliner Blickwinkel zwar vielleicht für akademisch richtig, aber für politisch engstirnig. Aus US-Sicht ist der griechische Patient längst tot, bevor die von Deutschland propagierten langfristigen Erfolgsaussichten zum Tragen kommen können.
Ein Nachsatz zerstört die Hoffnung auf baldige Fortschritte
Varoufakis nutzt die Skepsis, die "Doktor Schäuble" hinterlassen hat, für einen fulminanten Konter. Kein Land, so sagt er, habe seinen Haushalt so radikal saniert wie Griechenland, mit bestürzendem Ergebnis: "Erst verschwand das Fett, dann bildeten sich die Muskeln zurück, und jetzt ist da nur noch das Knochengerüst da." Die neue Regierung sei zu Kompromissen bereit, sie achte bestehende Verträge, und sie werde den Geldgebern "vier Fünftel des Weges" entgegenkommen. "Ich akzeptiere alle Auflagen, die man uns anbietet", sagt Varoufakis. "Vorausgesetzt, sie sind sinnvoll." Es ist dieser Nachsatz, der alle Hoffnung auf baldige Fortschritte wieder zerstört. Denn was "sinnvoll" ist, darüber gehen die Meinungen zwischen Schäuble und seinem "lieben Freund und Kollegen Yanis" diametral auseinander.