Internationaler Währungsfonds:„Ohne funktionierende Infrastruktur kann es keine produktive Wirtschaft geben“

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Habeck oder Lindner? Wessen Vorschläge würden der deutschen Wirtschaft mehr helfen? Der Europachef des Internationalen Währungsfonds sagt, es wäre viel gewonnen, wenn die Ampelregierung klar sagen würde, wie ihre Strategie aussieht. (Foto: Carsten Koall/dpa)

Seit Wochen streiten Finanzminister Lindner und Wirtschaftsminister Habeck über den richtigen Kurs. IWF-Europa-Chef Alfred Kammer sagt, was die Minister stattdessen tun sollten, um die Rezession zu überwinden.

Interview von Claus Hulverscheidt, Washington

Alfred Kammer hat viel zu tun dieser Tage, denn die EU gehört mit ihrer anhaltenden Wachstumsschwäche zu den Sorgenkindern des Internationalen Währungsfonds (IWF). Kammer, gebürtiger Deutscher, aber längst halber Amerikaner, war für den IWF unter anderem schon in Russland tätig, seit 2020 leitet er die Europaabteilung in der Washingtoner Fonds-Zentrale. IWF-Chefin Kristalina Georgiewa nennt ihn eine „intellektuelle und strategische Führungspersönlichkeit“, der Ökonom ist aber immer auch für ein verschmitztes Lächeln und einen kleinen Scherz zu haben. Zum Interview empfängt er in seinem Büro im elften Stock – nur einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt.

SZ: Herr Kammer, laut IWF-Prognose wird die US-Wirtschaft in diesem Jahr um 2,8 Prozent wachsen, die europäische um 0,8 – und die deutsche gar nicht. Was läuft da falsch in der Euro-Zone und im Staate Deutschland?

Alfred Kammer: Lassen Sie uns zunächst kurz darüber sprechen, was richtig läuft.

Gerne.

Europa hat eine Pandemie und einen massiven Energiepreisschock gemeistert, der den Kontinent viel härter getroffen hat als etwa die USA. Die Löhne steigen, Inflation und Zinsen sinken, die Realeinkommen und der Konsum erholen sich, die Firmen dürften bald wieder mehr investieren. Was die Konjunktur dämpft, ist die allgemeine Verunsicherung, insbesondere durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gerade für Europäer gilt: Wenn die Menschen verunsichert sind, parken sie ihr Geld lieber auf dem Sparkonto als es auszugeben. Die US-Verbraucher sind da weit weniger empfindlich.

Aber das allein erklärt doch nicht die gewaltigen Wachstumsunterschiede zwischen beiden Kontinenten.

Was wirklich schlecht ist in Europa, ist das drastisch gesunkene Wachstumspotenzial, das die mittelfristigen Konjunkturaussichten erheblich trübt. Noch zur Jahrtausendwende lag das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem in der heutigen Euro-Zone nahe an dem der USA. Heute, nur gut 20 Jahre später, liegt der Wert um etwa 20 Prozent niedriger als in den USA.

Wie konnte eine so große Verschiebung in einem so kurzen Zeitraum passieren?

Es gibt eine Reihe von Gründen, etwa die geringere Verfügbarkeit von Kapital in Europa oder der Umstand, dass die Europäer im Schnitt deutlich weniger Stunden im Jahr arbeiten als die US-Bürger. Der entscheidende Punkt ist jedoch: Europäische Unternehmen sind wesentlich weniger produktiv als amerikanische.

Warum?

Der entscheidende Unterschied ist: Große Firmen in den USA können ihre Produkte auf einem riesigen Markt mit mehreren Hundert Millionen Menschen anbieten. Das senkt die Stückkosten massiv. Europäische Firmen hingegen bedienen oft nur ihre – teilweise sehr kleinen – Heimatmärkte. Es gibt zwar den EU-Binnenmarkt, faktisch aber ist er übersät mit regulatorischen Hürden und anderen Barrieren. Wenn etwa ein deutsches Unternehmen seine Produkte auch in Frankreich und Spanien verkaufen will, ist das mit viel höheren Kosten verbunden, als wenn ein New Yorker Unternehmen in Kalifornien und Florida tätig wird. Junge Firmen in Europa haben zudem das Problem, das sie oft nicht an das nötige Kapital kommen, das sie für ihr Wachstum brauchen. Deshalb wandern ausgerechnet die vielversprechendsten Start-ups irgendwann in die USA ab.

Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, dass sich die Bundesregierung gegen den Versuch des italienischen Finanzkonzerns Unicredit wehrt, die Frankfurter Commerzbank zu übernehmen und auf diesem Wege einen großen europäischen Kreditgeber zu schaffen?

Wer ernsthaft einen funktionierenden, barrierearmen EU-Binnenmarkt will, muss auch im Bankensektor grenzüberschreitende Fusionen und Übernahmen zulassen. Wir brauchen große paneuropäische Kreditinstitute – einerseits für die Finanzierung der Unternehmen, zugleich aber, weil auch die Finanzbranche selbst in Europa immer noch zu sehr fragmentiert ist und Bankdienstleistungen zu teuer sind. Das ist in den USA ebenfalls anders.

Amerikanische Firmen haben es auch leichter, gut ausgebildete, motivierte Fachkräfte zu finden, oder?

Genau. In den USA ziehen gerade junge Arbeitnehmer gerne in Regionen, in denen hochproduktive, gut zahlende Unternehmen tätig sind – Beispiel Tech-Industrie. In Europa gibt es das so nicht, und das nicht nur wegen der Sprachbarriere. Wenn ich in Europa von einem Land ins andere umziehe, ist das achtmal so teuer, wie wenn ein US-Bürger von einem Bundesstaat in einen anderen wechselt. Einer der Gründe dafür ist, dass die Menschen in der EU ihre Rentenansprüche nicht vom einen ins andere Land transferieren können.

Was kann Europa tun, um den Rückstand aufzuholen?

All diese Barrieren beseitigen und tatsächlich einen einheitlichen Markt wie den amerikanischen schaffen! Die Banken- und die Kapitalmarktunion vollenden! Das gute ist, dass sich darüber im Prinzip ja auch alle einig sind. Das Problem ist nur: Es gibt in der EU 27 Länder mit 27 Interessen.

Deutschland steht wirtschaftlich noch schlechter da als die meisten anderen EU-Staaten. Was kann getan werden, damit sich das wieder ändert?

Zunächst haben der Energiepreisschock und die massiven Leitzinserhöhungen der großen Notenbanken Deutschland viel härter getroffen als andere, weil sie die Kosten der Unternehmen in die Höhe trieben, während gleichzeitig die weltweite Nachfrage nach deutschen Maschinen und Anlagen sank. Diese Effekte werden sich von allein zurückbilden. Das viel größere Problem sind die langfristigen Wachstumshemmer: der jährliche Rückgang der Erwerbsbevölkerung etwa, die massive Bürokratie oder der fehlende Binnenmarkt. Zugleich verschieben sich die industriellen Gewichte in der Welt zulasten der Bundesrepublik. Allerdings haben die deutschen Unternehmen, vor allem die mittelständischen, in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie sich erfolgreich an solch strukturelle Veränderungen anpassen können.

Statt die Dinge anzugehen, leisten sich Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner aber gerade einen Grundsatzstreit. Habeck will die Konjunktur durch Subventionen, eine Lockerung der Schuldenbremse und hohe öffentliche Investitionen ankurbeln. Lindner setzt dagegen auf Strukturreformen, also etwa Unternehmenssteuersenkungen und mehr Druck auf Arbeitslose. Wer hat recht?

Strukturreformen sind unabdingbar, ohne Zweifel. Aber: Die öffentliche Hand in Deutschland muss auch mehr investieren, denn ohne funktionierende Infrastruktur kann es keine produktive Wirtschaft geben. Hier ist in den vergangenen Jahrzehnten viel liegen geblieben.

Also nicht Habeck oder Lindner, sondern Habeck und Lindner?

Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Politik klar kommunizieren würde, wie ihre Strategie mittel- und langfristig aussieht – insbesondere beim klimagerechten Umbau des Landes. Unternehmen werden nur investieren, wenn sie wissen, was in den nächsten zehn bis 15 Jahren passieren soll. Außerdem sollte Deutschland tatsächlich die geltenden Kreditregeln für die Haushalte von Bund und Ländern überarbeiten, um mehr Raum für öffentliche Investitionen zu schaffen. Wir als IWF haben ja schon vor einiger Zeit vorgerechnet: Die Schuldenbremse kann gelockert werden – und die Staatsschuldenquote sinkt trotzdem weiter.

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