Italiens Premier Letta beim SZ-Führungstreffen:Die Kraft der Träume

Italiens Premier Letta beim SZ-Führungstreffen: Zwei große Europafreunde: Enrico Letta (li.) und Martin Schulz

Zwei große Europafreunde: Enrico Letta (li.) und Martin Schulz

(Foto: AFP)

Italiens Ministerpräsident Enrico Letta und Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, beschwören beim SZ-Führungstreffen die Einheit des Kontinents. Weil Europa den Menschen aber viel zu kompliziert geworden ist, wünscht sich Letta eine radikale Lösung: "Ich möchte ein Diktator sein - wenigstens für eine halbe Stunde."

Von Cerstin Gammelin und Max Hägler, Berlin

Der Ort war wohl passend gewählt, um den europäischen Traum zu beschwören: Ein Museum, ein Ort also, in dem Großes aufbewahrt werden, für die nachfolgenden Generationen. Im Museum für Kommunikation in Berlin-Mitte trafen sich Politiker, Manager und Unternehmer am Freitag zur Nacht der Europäischen Wirtschaft. Und der italienische Ministerpräsident Enrico Letta war sich wohl dessen bewusst, als er nach der Vorspeise zu seiner Rede anhob.

Wer gehofft hatte, dass es wenigstens am Abend bei wacholdergeräucherter Wachtel ein wenig entspannter zugeht bei diesem Führungstreffen Wirtschaft der SZ, der musste durchhalten. Die Diskussion um die Zukunft, eine bessere Zukunft, ging auch hier weiter, und mit welchem Elan: "Wir haben keine Träume mehr. Und das ist das Hauptproblem!", rief Letta irgendwann aus. Die Menschen klatschten, auch sein griechischer Kollege Antonis Samaras. Am Ende sollten sie stehen, aus Respekt vor diesem Mutmachen eines Italieners, der auch Europäer ist.

Die Krise in Italien ist beinahe vorbei - das war schon auch die Botschaft von Letta. Aber vor allem war es ein Bekenntnis für diesen Kontinent, der so müde zu sein scheint, der tatsächlich keine Idee für die kommenden zehn Jahre hat: Unsere Helden, sagte der italienische Ministerpräsident, unsere Helden "sind Kohl und Mitterand". Hand in Hand in Verdun, als sie des ersten Weltkriegs gedachten. Diese Versöhnung sei Europa. "Jetzt müssen wir das wiederholen!"

Kampf gegen eurokratische Wortungetüme

Wobei, so einfach ist das nicht, bei all der Bürokratie und so weiter auf diesem Kontinent. ESF, ESM, Two-Pack, Six-Pack. Auch das trage doch dazu bei, neben all den Geldkrisen, dass Europa nicht mehr verstanden werde. Um das aufzubrechen braucht es vielleicht auch radikale Lösungen: "Ich möchte ein Diktator sein", rief Letta dann. Einmal Diktator für 30 Minuten in Europa. "Und dann würde ich ein Gesetz verabschieden, das alle Abkürzungen abschafft!"

Wer den ganzen Tag verfolgt hatte, im Internet oder an Ort und Stelle, mochte fast an eine Absprache glauben - zu Gunsten der Europäischen Idee. Denn mit ähnlichen Worten hatte am Morgen Martin Schulz, der Vorsitzende des Europäischen Parlaments, diesen Kongresstag eröffnet. Europa, das sei leider auch eine Geschichte von Vorurteilen, deren "eurokratische Wortungetüme" der beste Ausdruck seien: ESF, ESM, Two-Pack, Six-Pack.

Und dann begann Schulz - ohne all den Kürzelwust - mit seinem eigentlichen Anliegen, nämlich bei den Zuhörern ein bisschen die Herzen zu öffnen für Europa, ganz wie es später Letta tun sollte. Die Brille und blinde Flecken wählte Martin Schulz, um die Gefahren für die europäische Idee deutlich zu machen. Für Europa jedenfalls seien die blinden Flecken, die wegen der Wahl der falschen Brille entstünden, nämlich der "national-ökonomischen Brille", ziemlich gefährlich, hob Schulz an.

Und zugleich sei Europa auch weit mehr als eine Ansammlung ökonomischer Kennziffern, als das Messen von Haushaltsverschuldungen. Überhaupt, diese Schulden: Es gebe ja die Suggestion, dass Schulden machen zugleich Schuld auf sich laden bedeute, als eine moralische Kategorie seien. Wer nur darauf abstelle, der müsse sich nicht wundern, dass über Europa so negativ gedacht werde, dass sich die Menschen entfremdeten.

Schulz will der zweite Deutsche an Europas Spitze werden

"Was ist, wenn die Entfremdung der Menschen von der Europäischen Union gefährlicher ist als die Euro-Krise", fragte Schulz. Neue Gräben zwischen Nord und Süd, Gläubigern und Schuldnern, zwischen Euro- und Nicht-Euro-Ländern entstünden. Alle würden sich als Verlierer fühlen, und genau dieses Gefühl, auf der Seite der Verlierer zu stehen, sei der Nährboden für erwachende Ressentiments. Populisten missbrauchten dieses diffuse Unbehagen mit der als anonym empfundenen Macht in Brüssel. Also müsse Europa gründlich reformiert werden!

An dieser Stelle schließlich wurde aus dem EU-Parlamentspräsidenten der Wahlkämpfer. Schulz selbst soll als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten in die Europawahlen im Mai 2014 ziehen. Anfang März muss er endgültig auf einem Parteienkongress bestätigt werden. Ein so gutes Ergebnis will er dort, dass er als Präsident für die nächste Europäische Kommission vorgeschlagen wird.

Dass der Rest Europas ein Problem damit haben könnte, zwei Deutsche an der Spitze zu haben, sieht er dabei übrigens nicht. "Wer ist der zweite Deutsche?", wunderte er sich über eine entsprechende Frage. "Merkel", ruft eine französische Zuhörerin. "Ach Merkel!". Die sei ja nur Bundeskanzlerin. Auch ein Bekenntnis für Europa, irgendwie.

In einer früheren Version des Textes hieß es, Letta habe am Freitag vor seiner Rede in Berlin bereits Angela Merkel getroffen. Das ist nicht richtig. Korrekt ist vielmehr, dass der griechische Premierminister Samaras zu diesem Zeitpunkt Merkel getroffen hat. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

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