Wahl in Italien:Vor dem Höllenritt

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Auf der venezianischen Laguneninsel Murano hat die traditionsreiche Glasindustrie dichtgemacht. (Foto: ANDREA PATTARO/AFP)

Die italienische Industrie kämpft ums Überleben, die römischen Parteien um Wählerstimmen. Dabei dreht sich gerade alles um die Frage: Wie lang hält die konservative Fassade der rechtsnationalen Wahlfavoritin Giorgia Meloni?

Von Ulrike Sauer, Rom

Das Alphatier der italienischen Politik war acht Wochen lang auf Samtpfoten unterwegs. "In diesem Wahlkampf reißt jeder das Maul auf", sagten die Kampagnenhelfer der rechten Spitzenkandidatin im August. "Nur Giorgia muss vorsichtig sein und ihre Worte abwägen", bedauerten sie. Bis zur Selbstverleugnung gab sich Giorgia Meloni den Anstrich einer modernen Konservativen, ganz die verantwortungsbewusste Haushaltspolitikerin und loyale Europäerin. Ihr überstürzt anmutender Sinneswandel brachte der Favoritin den Vorwurf ein, Wahlkosmetik zu betreiben. "Meloni versucht, sich zu pudern", ätzte ihr Widersacher Enrico Letta, Chef des sozialdemokratischen PD. Die schneidige Gründerin der Brüder Italiens, die mit dem faschistischen Motto "Gott, Vaterland und Familie" auf Stimmenfang geht, schimpfte Letta daraufhin einen Sexisten.

Zwei Wochen vor den Wahlen am kommenden Sonntag legte die 45-jährige Römerin ihren selbst auferlegten Maulkorb ab. Über Nacht betrat Meloni wieder ungeschminkt die Szene: eine rechtsnationalistische Populistin, die das Ausland, die Wirtschaft und die Finanzmärkte alarmiert.

An die Adresse der europäischen Partner gerichtet, sagte die Wahlkämpferin auf dem Mailänder Domplatz: "Für Europa ist der Spaß jetzt vorbei". Soll heißen: Wir werden in Brüssel mit der Faust auf den Tisch hauen und auf die Durchsetzung italienischer Interessen pochen.

Kurz darauf stimmten die Abgeordneten der Brüder Italiens im EU-Parlament in Straßburg gegen die Verurteilung Ungarns wegen der antidemokratischen Politik des Autokraten Viktor Orban. Der Premierminister habe schließlich "mehrfach die Wahlen gewonnen, sogar mit großem Vorsprung", sagte Meloni zur Begründung. Auch die Drohung der EU-Kommission, die Auszahlung von 7,5 Milliarden Euro Fördergeldern an ihren Freund in Budapest zurückzuhalten, kritisierte sie dann scharf. Am Dienstag legte Meloni nach. Ein Sieg der Rechten in Italien würde hoffentlich den Weg für die Behauptung ihrer rechtsradikalen Partnerpartei Vox in Spanien ebnen, sagte sie der spanischen Nachrichtenagentur EFE.

Leisten kann sich Italien einen Bruch mit Brüssel nicht. Das Schuldenland ist nicht nur auf die 191 Milliarden Euro aus dem europäischen Wiederaufbaufonds angewiesen. Von vitaler Bedeutung ist auch das neue Schutzschild der Europäischen Zentralbank, mit dem Frankfurter Euro-Hüter Spekulationsangriffe gegen einzelne Mitgliedsländer abwenden wollen. Die EZB kann das Rettungsinstrument einsetzen, um im Notfall einem "ungerechtfertigten und unkontrollierten" Zinsanstieg für Staatsanleihen entgegenzuwirken. Allerdings muss der hilfsbedürftige Euro-Staat dazu diverse Bedingungen erfüllen, dazu gehört auch die Verpflichtungen aus dem Wiederaufbauprogramm zu erfüllen.

Ist der demonstrative Schulterschluss mit den EU-Gegnern in Ungarn und Spanien also nur Wahlkampfshow? Tobias Mörschel, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rom, ist skeptisch: "Meloni will ein anderes Europa, das hat sie zehn Jahre lang in jede Kamera gesagt". Ihr Vorbild für den Umbau der EU sei Orban. Optimisten halten dem entgegen: Die Realität wird der machtwilligen Blitzaufsteigerin keine andere Wahl lassen, als das Make-up zu ihrem wahren Gesicht zu machen. Claudio Cerasa dreht Melonis Losung sogar um. "Im Fall eines Wahlsiegs der Rechtsnationalisten in Italien wäre der Spaß nicht für Europa vorbei, sondern für die Populisten", schreibt der Chefredakteur des liberalen Blatts "Il Foglio". Nicht einmal die verantwortungsloseste Partei könne es sich heute erlauben, gegen Europa zu Felde zu ziehen. "Die Populisten müssen eingestehen, dass ihre Ideen der Vergangenheit angesichts der rauen Wirklichkeit eher ein Teil des Problems sind als eine Lösung", so Cerasa.

Dieser Sicherheitsgurt ist bis zum 31. Dezember 2026 festgezurrt

Mario Draghi tut seit seinem Sturz am 21. Juli alles, um sicherzustellen, dass Meloni und ihr Bündnispartner Matteo Salvini von der Lega das Erbe seiner Regierung nicht zerstören. Bereits im Mai 2021 hatte er den Apparat zur Umsetzung des Wiederaufbauplans so konzipiert, dass die wechselhaften Launen der römischen Politik die Vollstreckung des Modernisierungsprogramms nicht gefährden können. Dieser Sicherheitsgurt ist bis zum 31. Dezember 2026 festgezurrt.

Dem Realitätstest werden nach dem Regierungswechsel auch die teuren Wahlversprechen der Rechten ausgesetzt. Meloni tritt zwar für eine rigorose Haushaltsdisziplin ein. Doch die Chefin der Brüder Italiens wirbt gleichzeitig ungeniert mit kostspieligen Rentenprogrammen. Ihre Botschaft: Geh in Rente, wann du willst. Sollte der Scheck zu niedrig sein, helfen die Steuerzahler aus.

Die Finanzmärkte lassen sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen. "Bislang haben die Anleger nicht mit der Wimper gezuckt", schreibt Reuters-Kolumnist Hugo Dixon. Der Risikoaufschlag der römischen Staatsanleihen gegenüber den Bundesschatzbriefen liegt auf demselben Niveau wie im Juli vor dem Rücktritt Draghis, bei 2,3 Prozentpunkten. Auch bei der amerikanischen Citi Bank stellt man fest: "Die Umfragen deuten auf einen überwältigenden Sieg des Rechtslagers hin, aber die Märkte scheinen das politische Risiko in Italien gelassen zu sehen". Damit könnten sie zumindest in den kommenden Monaten richtigliegen. "Viele politische Versprechen der Rechten dürften Italien letztlich aber auf Kollisionskurs mit Brüssel bringen", erwarten die Citi-Analysten. Gespannt sind die Akteure auf den Finanzmärkten nun darauf, mit welchem Wirtschaftsprogramm die neue Regierung an den Start gehen wird. Bei Meloni stochern sie im dichten Nebel. Man weiß nicht, was sie will.

Sicher ist dagegen, was die neue Regierung in Rom erwartet: ein Höllenritt. Amtseinführung frühestens Ende Oktober, Vorlage des Haushaltsentwurfs im November, die fristgerechte Verabschiedung von 433 Durchführungsdekreten für den Erhalt weiterer Milliarden aus dem EU-Hilfsfonds im Dezember, eine unsichere Energieversorgung, exorbitante Gaspreise, steigende Zinsen und eine Rekordinflation. Konnte die italienische Wirtschaft im ersten Halbjahr noch mit 3,4 Prozent Wachstum glänzen, rutscht zumindest die Industrie gerade in die Rezession. Der Industrieverband Confindustria erwartet für das dritte Quartal einen Rückgang der Industrieproduktion um 1,4 Prozent. In den energieintensiven Branchen zwingen unbezahlbare Stromrechnungen Unternehmen zur Aufgabe.

Besonders hart trifft es die weltweit führenden italienischen Fliesenhersteller in der Emilia Romagna. Auf der venezianischen Laguneninsel Murano hat die traditionsreiche Glasindustrie dichtgemacht. "In einem gewissen Maß ist die Deindustrialisierung bereits im Gange", sagt Matteo Zoppas, Hersteller elektrischer Bauteile aus Venetien. Die Folgen der Energiepreisexplosion seien unvorstellbar. Zoppas ist Weltmarktführer bei Heizsystemen für häusliche Anwendungen, insbesondere für die Küche. Sein Unternehmen könne nur dank seiner Größe noch überleben. "Es muss ein Weg gefunden werden, um das italienische Produktionssystem zu retten", appelliert Zoppas an die künftige Regierung.

Doch konnte Draghi noch 60 Milliarden Euro für Entlastungspakete auftreiben, ohne neue Schulden zu machen, so versiegen im Abschwung nun die zusätzlichen Steuereinnahmen. Der finanzpolitische Spielraum der nächsten Regierung wird auch durch den Anstieg der Zinsausgaben und den inflationsbedingten Anstieg der Staatsausgaben eingeschränkt.

Der Überlebenskampf der italienischen Wirtschaft schreckt Meloni nicht. "Italien verfügt über unerschöpfliche Ressourcen und ist in der Lage, jede Herausforderung zu bewältigen", sagte sie am Mittwoch. Aus dem Mund von Mario Draghi klangen solche Versicherungen anders.

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