Italien:Venedig verwandelt sich in ein Einkaufszentrum für Luxusartikel

The cruise ship from Mediterranean Shipping Company Musica dwarfs Via Garibald as it arrives in Venice

Begegnung zweier Inseln: Ein Kreuzfahrtschiff in Venedig

(Foto: REUTERS)

56 000 Einwohner, vielleicht 30 Millionen Besucher - Venedig ist ein Wahnsinn. Gibt es hinter der globalen Marke überhaupt noch eine Stadt?

Essay von Thomas Steinfeld

Venedig ist eine nie versiegende Quelle empörender Nachrichten. Die Stadt wird vom steigenden Meerwasser überflutet, von korrupten Geschäftsleuten und Politikern ausgebeutet, von Touristen überrannt. Wollte man Venedig noch erleben, sollte man das bald tun, erklärte vor kurzem das US-Unternehmen Fodor's, der größte Verlag für Reisebücher überhaupt. Der Mythos von der untergehenden Stadt, geschaffen, um den beinahe kampflosen Sieg der Armee Napoleons über die Republik Venedig im Jahr 1797 zu rechtfertigen, scheint aktueller denn je zu sein. Bis auf weiteres aber steht der Untergang nicht an, jedenfalls nicht in dieser Weise.

Im Gegenteil, es wird sehr viel Geld investiert: etwa unmittelbar neben der Rialto-Brücke, wo ein Palazzo steht, der seit mehreren Jahren von Baugerüsten umschlossen ist. Dahinter steht ein Haus, dessen älteste Teile aus dem 13. Jahrhundert stammen: der "Fondaco dei Tedeschi", die ehemalige Niederlassung der deutschen Händler in Venedig.

Bis vor einigen Jahren befand sich darin das Hauptpostamt. Im Jahr 2008 kaufte die Firma Benetton aus der benachbarten Stadt Treviso den Palazzo, für 53 Millionen Euro. Gegenwärtig wird er nach Plänen des berühmten niederländischen Architekten Rem Koolhaas umgebaut: in ein Einkaufszentrum, das der Konzern LVMH (Louis Vuitton, Loro Piano, Kenzo, Fendi, Acqua di Parma, Veuve Cliquot, Hennessy und viele andere) verwalten wird. Im Herbst soll das Einkaufszentrum mit seinen fast 8000 Quadratmetern Verkaufsfläche eingeweiht werden.

Drei Thesen

Wandel durch eine neue Wirtschaftsform: die Ökonomie der globalen Luxusartikel

Die Politik will es so: die Stadt unterwirft sich diesem Diktat

Das Ergebnis: ein internationales Shoppingcenter in historischer Kulisse

Der Bau einer Brücke hat einst den Charakter der Stadt vollkommen verändert

"Das historische Erbe dieses Gebäudes", heißt es bei dem für den "Fondaco" verantwortlichen Unternehmen, bestehe "in einer Begegnung des Ostens mit dem Westen". Diese werde nun, in der alten Umgebung, neu erschaffen - zu lange habe man zu viel von Venedig den billigen Souvenirläden überlassen. Irgendwann werden Tintenfische auf dem Markusplatz schwimmen. Zuvor aber wird Venedig etwas anderes sein als ein neues Atlantis, nämlich eine Mall, ein Resort und ein Lager, ein Setting und eine Bühne, unter den jüngsten Bedingungen des globalisierten Kapitals als exterritorialer Ort gestaltet.

Eine moderne Großstadt besteht aus Zentrum und Peripherie. "Downtown" befinden sich Verwaltungen, politische Institutionen, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Kinos, Hotels, Theater, Restaurants und Bars. Aber es leben dort nur wenige Menschen. Die Peripherie ist demgegenüber nach Funktionen getrennt: In manchen Bereichen wird gewohnt und produziert, in einem anderen wird repräsentiert, verkauft und unterhalten. So ist es auch in Venedig:

Denn ein Ereignis gab es, das Venedig stärker veränderte als das Ende der Republik in den napoleonischen Kriegen. Es war der Bau der Eisenbahnbrücke, die das Festland mit Venedig verbindet. Als die zweigleisige Strecke im Januar 1846 eingeweiht wurde, endete eine über tausend Jahre alte Geschichte. Die Stadt hörte auf, eine Insel zu sein, und es geschah etwas Neues: Mit dieser dreieinhalb Kilometer langen Brücke über seichtes Wasser nahm Venedig eine Entwicklung vorweg, die erst fünfzig oder hundert Jahre später, von Nordamerika ausgehend, der modernen Großstadt ihre Gestalt gab.

Illustration Venedig 2

Illustration: Sead Mujic

Venezianische Souvenirs, gefertigt in China

Die Brücke zwischen dem Festland und dem historischen Zentrum Venedigs führte die Trennung von Zentrum und Peripherie herbei. Sie verschärft sich zusehends, wobei das Prinzip längst ausgeweitet ist auf Venedig versus den Rest der Welt. Im vergangenen Jahr zählte Venedigs Altstadt nur noch 56 072 Einwohner, etwa ein Drittel des historischen Mittels seit dem frühen 16. Jahrhundert. Zu ihnen gesellen sich jetzt pro Jahr zwanzig oder dreißig Millionen Touristen (die genauen Zahlen kennt keiner).

Auf der Halbinsel Manhattan liegen die Verhältnisse ähnlich: Sie ist von Brooklyn, von Jersey City oder von der Bronx genauso getrennt wie Venedig vom Festland. Nur dass die Wohnungen dort eher als luxuriöse internationale Investitionsgüter leer stehen, während sie in Venedig häufiger an Touristen vermietet werden (als Investitionsgüter werden sie in Venedig auch behandelt), ein Verfahren, das seit der Durchsetzung von Internet-Börsen wie Airbnb sich nicht nur in allen Stadtteilen heftig verbreitete, sondern auch viel ertragreicher wurde.

Die spektakulären unter den vielen Baumaßnahmen, die die Stadt mit ihrem Lärm und ihrem Schmutz erfüllen, sind Derivate einer globalen Kultur der Luxusgüter, die hier zunehmend ein historisches Gelände mit Projekten bewirtschaftet, die überwiegend gar nichts mit der Geschichte der Stadt zu tun haben. Je mehr man sich dem Markusplatz nähert, desto mehr sind die Straßen gesäumt von Geschäften für Bekleidung, für Brillen, für Schuhe, für Uhren, von Dolce & Gabbana und Burberry und Louis Vuitton und Zegna und Bulgari und Armani - und den fliegenden Händlern, illegalen Einwanderern, die meist aus Schwarzafrika kommen und fernöstliche Kopien dieser Produkte anbieten, so dass der chinesische Tourist als venezianische Trophäe mit nach Hause nehmen kann, was in seiner Nachbarschaft produziert wurde.

Touristen wissen, wie Venedig auszusehen hat

Anfang März bezog der amerikanische Schmuckhersteller Tiffany & Co einen Palazzo in der Nachbarschaft des Opernhauses La Fenice. Inszeniert ist das Geschäft als mittelalterliche Schatzkammer. Denn die Avantgarde dieser Firmen sucht die innige Verbindung zur Stadt: Dass Prada die Ca' Corner della Regina mit ihrer prächtigen Innenausstattung aus dem 18. Jahrhundert restaurierte und als Museum herrichtete (es wurde im Jahr 2011 eröffnet), ist nicht nur ein mäzenatischer Akt von erstaunlicher Großzügigkeit. Vielmehr demonstriert dieses Unternehmen auch, welche Umgebung ein Hersteller von teuren Dingen als das ihm angemessene Ambiente betrachtet, im Hinblick sowohl auf ästhetische wie historische Geltung.

Ein Markenartikel aber ist die Stadt längst selbst. Die Touristen wissen, wie Venedig auszusehen hat. Diese Erwartung wollen sie bestätigt haben - die Ikone soll ihnen als solche entgegentreten. Deswegen nehmen sie bei dieser Fahrt die Kamera nicht vom Auge.

Bei diesem Versuch, in (einem Bild) der Realität sehen zu wollen, was man im Bild schon gesehen hat, verwandelt sich die Stadt nicht nur in ein geschlossenes Ensemble jenseits von Zeit und Geschichte. Sie wird darüber selber reproduzierbar, in lauter fotografisch stillgestellten Momenten, und sie wird exterritoral, buchstäblich: als reine Oberfläche, aus allen historischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Zusammenhängen gelöst und damit der Warenästhetik nicht nur angepasst, sondern einer solchen unterworfen.

Als Kulisse und reduziert auf ein paar ikonische Bauwerke mitsamt Kanälen verbreitet sich Venedig so auf der ganzen Welt, von der kalifornischen Stadt Venice (1905) über das "Venetian Resort Hotel" in Las Vegas (1999) bis zur Wohnsiedlung "Viaport Venezia" in Istanbul (2011), vom "The Venetian Macao Resort" (2007) bis zur "New South China Mall" (2005) im chinesischen Dongguan, dem größten Einkaufszentrum der Welt, in dem es nicht nur eine als Venedig-Kopie gestaltete Abteilung, sondern auch solche im Stil von Paris und Amsterdam gibt. Umgekehrt ist das ikonisch gewordene Venedig auch in Venedig präsent, als allgegenwärtige Verdopplung der Stadt in sich selbst, als Bild im Bild im Bild. Der "semantisierte Themenpark" der historischen Stadt geht auf diese Weise fugenlos in den semantisierten Themenpark der Luxusmarken über.

Das Bild einer alten Stadt

Seit einigen Jahren gibt es eine neue Literatur zu Venedig. Sie ist politisch, ökonomisch und urbanistisch ausgerichtet. Einem solchen Konzept folgt Salvatore Settis in seinem schmalen Buch "Wenn Venedig stirbt" (Wagenbach Verlag, Berlin 2015). Venedig gilt darin nur als das prägnanteste Beispiel einer Entwicklung, in der jede touristisch verwertbare Stadt Ausdruck einer aller Elemente des Lebens durchziehenden Kommerzialisierung des Lebens wird. Grundlage für eine solche Betrachtungsweise Venedigs ist der "Atlas einer globalen Situation", den der Zürcher Philosoph und Künstler Wolfgang Scheppe unter dem Titel "Migropolis" veröffentlichte (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009). Diese monumentale Studie, Register und Analyse zugleich, ist in diesen Tagen in einer Taschenbuchausgabe erschienen. Thomas Steinfeld

Veniceland vor Venedig?

Vor ein paar Jahren war zum ersten Mal die Rede davon, auf einer künstlichen Insel nicht weit vom Bahnhof - der "Sacca di Biagio" - die ehemalige Müllverbrennungsanlage abzureißen und dort einen Vergnügungspark namens "Veniceland" zu errichten, nach dem Modell des "Luna Park" auf Coney Island vor Brooklyn, allerdings mit angeblich authentisch venezianischen Motiven.

Aufgegeben ist die Idee nicht, sie wartet offenbar nur auf ihre Gelegenheit. Und seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, zuletzt im vergangenen November, wird immer wieder der Plan hervorgeholt, eine U-Bahn zu bauen, die sich unter der gesamten Lagune erstrecken und das historische Zentrum mit Mestre und dem Flughafen Marco Polo verbinden soll. In ihm wird auch die Verinselung einer Insel, das heißt: die Verwandlung Venedigs in eine im dreifachen Sinne globalen Destination fortgesetzt - global, weil von aller Welt besucht, global, weil Schauplatz eines internationalen Handels mit Markenartikeln, und global, weil nicht mehr an das umliegende Territorium gebunden.

Die Begegnung einer Insel mit einer Insel

Der bislang angemessenste Ausdruck dieser Entwicklung sind die Kreuzfahrtschiffe, von denen während der Saison täglich acht, zehn oder zwölf Stück das historische Zentrum durchqueren - und fast jedes bringt drei- oder viertausend Besucher und überragt den Markusdom um das Doppelte. Denn abgesehen vom grotesken Missverhältnis zwischen der Größe dieser Schiffe und der Stadt: Ein Kreuzfahrtschiff ist eine bewegliche Insel.

Wer darauf unterwegs ist, bekommt auf der Fahrt durch den Canale della Giudecca die Stadt als Panorama vorgeführt - er wird durch ein Bild gefahren, in der Begegnung einer Insel mit einer Insel. Und kann er nicht an Bord die gleichen Markenartikel kaufen, die ihm auch an Land angeboten werden? Ein Restaurant der Marke "Eataly", des mittlerweile auf der ganzen Welt expandierenden italienischen Lebensmittelkonzerns, der den piemonteser Bauernmarkt und die "Trattoria" in ein globales Konzept verwandelt, gibt es zwar schon auf Schiffen der Schweizer Reederei MSC, aber noch nicht in der Stadt. Das wird sich vermutlich ändern.

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