Pierre Moscovici will sich nichts vorwerfen lassen. Nein, sagt der EU-Wirtschaftskommissar mit betont ruhiger Stimme, man habe wirklich alles versucht. "Giovanni Tria habe ich in den vergangenen Wochen öfters getroffen als ich mich erinnern kann", erklärt der Franzose. Doch all die Gespräche mit dem italienischen Finanzminister haben nichts gebracht. Und so steht Moscovici am Mittwoch ein bisschen hilflos im Pressesaal der Kommission; er muss zugeben, was offensichtlich ist: "Wir haben aus Rom keine Antworten auf unsere Fragen bekommen." Brüssel übernehme deshalb "die rechtliche und politische Verantwortung", denn wer, bitteschön, fragt Moscovici, werde am Ende die Rechnung für die italienischen Ausgaben bezahlen?
Der Kommissar ist in diesem Moment sichtlich bemüht, die Contenance zu wahren. Das fällt ihm nicht ganz leicht, denn was hat er sich nicht alles anhören dürfen: Ein Erbsenzähler sei er, hieß es in Rom, einer, der Terror an den Finanzmärkten auslösen wolle. Und überhaupt: Was erlaube sich dieser französische Sozialist im Brüsseler Bunker, so über das italienische Volk zu urteilen?
Nun, Moscovici tut an diesem Mittwoch das, was ein Kommissar der EU-Behörde tun muss, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu begründen. Er beruft sich auf die Regeln, die für alle Mitgliedsstaaten gelten. Der Franzose spricht von einer "besonders ernsthaften Nicht-Konformität" der italienischen Haushaltspläne mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er spricht von der Tatsache, dass Italien das Schuldenkriterium nicht einhalte. Und schließlich von einer "logischen und unvermeidlichen Konsequenz". Die da wäre: die Empfehlung, ein Defizitverfahren gegen Italien einzuleiten.
Damit geht der Schlagabtausch zwischen Brüssel und Rom in die nächste Runde. Zwei Wochen haben die EU-Finanzminister nun Zeit, zur Entscheidung der Kommission Stellung zu nehmen. Verhindert werden könnte ein Defizitverfahren nur, wenn eine Mehrheit der Länder dagegen votierte. Doch das ist nicht absehbar. Moscovici dürfte also noch im Dezember ein entsprechendes Verfahren offiziell eröffnen.
Die Fakten liegen auf dem Tisch. Zwar bleibt Italien mit einer bislang geplanten Neuverschuldung von 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung unter der erlaubten Grenze von drei Prozent. Das anvisierte Defizit wäre allerdings drei Mal so hoch wie von der Vorgängerregierung mit Brüssel vereinbart. Die EU-Kommission spricht deshalb von einer "beispiellosen" Abweichung von den Regeln. Die Behörde verweist zudem darauf, dass damit Italiens Staatsverschuldung von etwa 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weiter wächst - erlaubt sind 60 Prozent. In dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht kritisiert die Kommission "deutliche Rückschritte" der seit Juni amtierenden Populisten-Regierung in Rom. Die Ausgaben für die geplante Rentenreform und das Grundeinkommen würden den Schuldenberg noch weiter anwachsen lassen.
In Rom will man von all dem nichts wissen. Korrekturen am Budgetentwurf lehnt die Regierung vehement und mit meist höhnischen Worten ab. Sie fordert von Brüssel stattdessen, "außergewöhnliche Ereignisse" wie den Einsturz einer Autobahnbrücke im August in Genua und die Schäden durch eine Serie verheerender Unwetter zu berücksichtigen. Genau solche Forderungen, so der Vorwurf aus Italien, habe Brüssel der Vorgängerregierung unter dem Sozialdemokraten Matteo Renzi stets durchgehen lassen. Was, so die Vermutung in Rom, auch daran liege, dass Moscovici seinem ehemaligen Genossen im Palazzo Chigi weitaus mehr Flexibilität eingeräumt habe als der jetzigen Koalition aus EU-kritischer Lega und Cinque Stelle.
Tatsächlich hat sich der Ton in der Kommission gegenüber Rom verändert. Auch Renzi nutzte "Brüssel" stets für seine Zwecke, auch er machte sich über die "Erbsenzähler im Berlaymont" lustig. Doch es gebe, so heißt es in der Kommission, einen klaren Unterschied zu Matteo Salvini und Luigi Di Maio, den neuen starken Männern in Rom: Renzi sei bei allem Getöse immer dialogbereit geblieben und am Ende habe er als überzeugter Europäer im Sinne der EU gehandelt.
Wenn, dann bringen die Finanzmärkte die Italiener zur Räson, sagt ein EU-Beamter
Nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin und Paris ist man davon überzeugt, dass Salvini und Co. den Streit über den Haushalt als politisches Machtspiel vor den Europawahlen im kommenden Frühjahr begreifen. Wenn Ende Mai 2019 gewählt wird, dürften sich die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament dramatisch ändern. Salvini macht keinen Hehl daraus, was er dann vorhat. Italien wolle einen einflussreichen EU-Kommissar stellen, sagte er am Dienstag. Dieser solle sich um Wirtschaft, Arbeit, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft kümmern. Salvini kritisierte die Vorgängerregierung, die sich auf den Posten der EU-Außenbeauftragten konzentriert hätte. "Überlasst das Reden den anderen, Italien braucht Fakten und Arbeitsplätze", erklärte er.
Der Mann, der in Brüssel noch Wirtschaftskommissar ist, macht sich jedenfalls keine Illusionen. Moscovici ist einer, der dem Rechtspopulismus den Kampf angesagt hat. Auch wenn er sich an diesem Mittwoch zurückhält, ist klar, wen er als seine Gegner sieht: Nationalisten wie Salvini und Marine Le Pen. In der Kommission ist man sich bewusst, dass man selbst mit einem Defizitverfahren ein nicht besonders starkes Instrument hat, Italien zum Einlenken zu bewegen. "Wenn überhaupt, dann bringen die Finanzmärkte die Italiener zur Räson", sagt ein hochrangiger EU-Beamter. Ansonsten bleibe nichts anderes übrig, als die Regeln anzuwenden.
Wie es aussieht, dürfte sich der Streit zwischen Rom und Brüssel noch länger hinziehen. Ein Defizitverfahren ist nicht so angelegt, dass es rasche Entscheidungen gibt. Im Gegenteil: Es gibt derart viele mögliche Abzweigungen, dass es in der Geschichte der EU bislang noch nie zu Strafzahlungen oder dem Entzug von EU-Fördermitteln kam. Das Prozedere sei "nicht zu langsam oder zu schnell", sagte Moscovici, "es ist auch nicht zu schwach oder zu stark." Alles gehe seinen Gang, Schritt für Schritt.