Süddeutsche Zeitung

Corona-Politik:Italien streitet übers Kündigungsverbot

Die Koalitionsparteien in Rom ringen um die Verlängerung eines Gesetzes, das die sozialen Folgen der Corona-Krise mildern soll und weltweit ein Unikum ist.

Von Ulrike Sauer, Rom

Es sind ungewöhnliche Meldungen, die gerade aus Italien kommen. Die alte Klage von den ewigen Wachstumsbremsen? Verstummt. Jetzt ist alles anders. Italien kämpft mit einem ganz neuen Problem: Für den Sommer wird mit einem Beschäftigungszuwachs von sieben Prozent gerechnet. Der Saisoneffekt in der Tourismusindustrie im dritten Quartal ist davon sogar ausgeklammert. Doch der Wirtschaft fehlt vielerorts das Personal - der Aufschwung kommt, und viele Unternehmen können nicht mithalten.

Die Lage ist grotesk: Die Unternehmen suchen verzweifelt nach Arbeitskräften, um den Neustart in Industrie, Handel, Gastronomie und Tourismus anzuschieben. Die Regierungskoalition aber streitet seit Wochen über eine Verlängerung des Kündigungsverbots, das zu Beginn der Pandemie vor 15 Monaten eingeführt worden ist. Während das Land endlich in Schwung kommt, sperren sich die Parteien mehrheitlich gegen die Aufhebung des weltweit einzigartigen Entlassungsstopps. Für Premierminister Mario Draghi und seinen 245 Milliarden Euro schweren Aufbauplan sind die verkrusteten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt ein weiterer Stolperstein.

Was passiert, wenn Italien nicht aus den Startblöcken kommt? Wie soll das Land prompt auf die beispiellosen Investitionsanreize reagieren, wenn die Unternehmen nicht schnell genug geeignete Mitarbeiter einstellen können? Die Fragen überschatten die Euphorie, die das Ende der bleiernen Krisenstarre ausgelöst hat.

Endlich ist der Aufbruch da. 560 000 Stellen sind im Juni neu zu besetzen, 15 Prozent der italienischen Unternehmen suchen gerade Mitarbeiter. In den drei Sommermonaten bis August werden es 1,3 Millionen zu besetzende Jobs sein. "Die Unternehmen versuchen, neu durchzustarten", heißt es in einem Bericht der italienischen Handelskammern und der Arbeitsagentur Anpal. Nach Kurzarbeit, Kündigungsverbot und dem Verlust von 945 000 befristeter Jobs ist der Knoten geplatzt.

Die Gewerkschaften warnen vor einer "sozialen Bombe"

Im April stieg die Industrieproduktion im fünften Monat in Folge. Besonders erfreulich: Sie sprang sogar über das Vor-Corona-Niveau im Februar 2020. Besonders markant fällt der Aufschwung bei Investitionsgütern aus. "Das ist ein Zeichen, dass die Unternehmen wieder investieren und Vertrauen in die Zukunft haben", sagt Enrico Carraro, Chef des Industrieverbandes Confindustria im Veneto.

Nicht so in Rom. In der Hauptstadt ringen die Parteien um einen Kompromiss, der verhindern soll, dass die Einbalsamierung der Wirtschaft beendet wird. Eigentlich läuft das Kündigungsverbot nach mehrmaliger Verlängerung am 30. Juni aus. Die Gewerkschaften aber warnen vor einer "sozialen Bombe", falls die Unternehmen die Belegschaften dann an ihren Bedarf anpassen dürfen. Maurizio Landini, Generalsekretär der größten italienischen Gewerkschaft CGIL, fordert, den Kündigungsstopp mindestens bis 31. Oktober zu verlängern. Zuvor müsse in Italien die Arbeitslosenhilfe reformiert werden. Der Gewerkschaftschef drohte der Regierung sogar mit einem Generalstreik. Industriellenboss Carlo Bonomi hält dagegen die Aufhebung des missliebigen Verbots für überfällig: "Die Konjunkturdaten zeigen, dass der Aufschwung begonnen hat. Das Kündigungsverbot hat ausgedient."

Wie so oft in Italien scheinen Politik und Wirtschaft in getrennten Welten zu leben. Die Regierungskoalition des früheren EZB-Chefs Draghi, der vor vier Monaten in höchster Not nach Rom gerufen wurde, zankt sich seit Wochen um die Blockade. Die Sozialdemokraten streben eine Verlängerung bis 30. September nur in Krisenbranchen an, die Fünf-Sterne-Partei fordert eine generelle Verlängerung bis 1. September, die linke Splitterpartei LEU eine Verlängerung bis 31. Oktober. Die Lega möchte das Verbot auf die hart getroffene Textilbranche beschränken, und Forza Italia setzt sich für eine Aufhebung ein. Eine Regierung - fünf Positionen. Draghi, der Reformer, hätte sich wohl am liebsten längst von dem Verbot verabschiedet.

Die EU-Kommission hält die Regelung für kontraproduktiv

Kaum ein Land der Welt griff so massiv wie Italien in die unternehmerische Freiheit ein, um die sozialen Folgen der Corona-Krise zu mildern. Die EU-Kommission legte vor Kurzem eine detaillierte Analyse der unterschiedlichen Maßnahmen in den Mitgliedsländern vor. Das überraschende Ergebnis: In Italien lag der Stellenverlust sogar über dem EU-Durchschnitt. Denn die Rezession traf die befristet Beschäftigten, vor allem junge Menschen und Frauen, mit voller Wucht. Das Fazit der EU-Studie: Das italienische Kündigungsverbot sei kontraproduktiv, "da es in den Unternehmen eine Anpassung der Arbeitskräfte blockiert".

Ohnehin ist fraglich, ob die Aufhebung tatsächlich die befürchtete Welle von Massenentlassungen lostreten würde. Das römische Parlamentsbüro für Wirtschaftsfragen schätzt, dass landesweit 70 000 Beschäftigte ihren Job verlieren könnten. Ein Ende der Blockade "dürfte keine negativen Folgen haben, sondern vielmehr wieder einen Wechsel der Beschäftigten ermöglichen", heißt es in dem Bericht.

Beispiel Bauindustrie: Hinter der Branche liegen elf Krisenjahre, die viele Großunternehmen in die Knie gezwungen haben. Nun bricht eine Auftragsflut über die Firmen herein. Die üppigen Subventionen für private Bauvorhaben und die europäischen Milliardenhilfen zur Modernisierung der Infrastrukturen geben der Branche mächtig Auftrieb. Dank der jüngsten Bürokratie-Reform der Regierung rechnet Gabriele Buia, Präsident des Bauverbandes Ance, mit einer starken Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. "Auf diese Voraussetzungen haben wir seit Jahren gewartet", sagt Buia. Die Debatte über die Verlängerung des Kündigungsverbots erscheint ihm surreal. "Um die sich uns bietende Chance zu nutzen, müssen wir unser Personal aufstocken", sagt er.

Italien scheint auch nach der Jahrhundertkrise weiterhin durch einen alten Reflex konditioniert zu sein. Man setzt alles daran, die existierenden Arbeitsplätze zu erhalten, statt die Schaffung neuer Jobs zu fördern. Eine aktive Beschäftigungspolitik und zeitgemäße Ausbildungsstrategien wurden vernachlässigt. Auf dem Arbeitsmarkt hat sich so das chronische Missverhältnis von Angebot und Nachfrage verschärft. Nur 15 von 100 freien Stellen können besetzt werden. Der Tourismusverband beklagt das Fehlen von 150 000 Saisonkräften. In einer Welt, die sich rasant beschleunigt und virtualisiert, wirken sich Italiens Beharrungskräfte immer nachteiliger aus. "Wir tun uns sehr schwer, neue Mitarbeiter zu finden", sagt der Aufzughersteller Andrea Maspero. Seit Februar erlebt sein Unternehmen aus Como, das auf Maßanfertigungen spezialisiert ist, einen regelrechten Auftragsboom und benötigt mehr Personal. Maspero würde gerne auf der Stelle zehn Ingenieure einstellen. Seine Suche ist bisher vergeblich.

In nächster Zukunft dürfte sich die Situation noch zuspitzen. Die Ausgrenzung der jungen Generationen vom Arbeitsmarkt und der Mangel an Fachkräften droht zu einem schweren Handicap für den digitalen und ökologischen Wandel zu werden, den Draghi bis 2026 mit 245 Milliarden Euro befeuern will.

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