Italien:Die Zerreißprobe

Das Land hat sich wirtschaftlich erholt, aber die Schuldenlast ist geblieben. Die Kluft zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden wächst drastisch.

Von Ulrike Sauer, Rom

Wenige Tage vor der Parlamentswahl hatte der Frost die Hauptstadt fest im Griff. Die Schulen blieben geschlossen. Vor den Messehallen aber herrschte ein riesiger Andrang. Nach zehn Jahren hat die italienische Rentenanstalt INPS zum ersten Mal wieder Stellen ausgeschrieben. Mehr als 22 500 Bewerber haben sich zum Auswahlverfahren gemeldet. 60 Fragen in 60 Minuten: Informatik, Englisch, Logik, Allgemeinwissen. Angereist waren vor allem Menschen aus dem Süden, die dringend einen Job suchen. Arbeitslose Juristen oder Steuerberater, die sich mit 400-Euro-Jobs durchschlagen. Die Festanstellung, von der alle träumen, ist eine Illusion. Die Bewerber kämpfen um 365 Stellen.

Auf dem Wahlzettel wollten sie ihr Kreuz fast alle bei der Protestbewegung Cinque Stelle machen. "Ich habe die Nase voll von der Linken und der Rechten", sagte einer. "Uns hilft dann hoffentlich das Grundeinkommen weiter", sagte ein anderer. Die junge Vereinigung Cinque Stelle, die vor einer Woche als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorging, hat mit dem Versprechen eines Grundeinkommens für neun Millionen Bedürftige ganz Süditalien erobert.

Vor der Messehalle steht etwas abseits ein Sizilianer, der seinen 35-jährigen Sohn zu dem Bewerbungsverfahren begleitet hat. Eine ganze Generation sei ausgelöscht worden, sagt der Rentner und fragt: "Wovon leben mein Sohn und mein zweijähriger Enkel, wenn ich nicht mehr da bin?" Auch er gebe darum seine Stimme Luigi Di Maio, 31, dem Studienabbrecher im blauen Anzug, der die Anti-Establishment-Bewegung an die Macht bringen will.

Warum auch nicht? Wer hier in der Kälte steht, sucht einen Weg aus dem Albtraum. Im Süden ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 46,6 Prozent doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Mit ihren prekären Mini-Jobs verdienen sie weniger als polnische Altersgenossen. Von 716 000 Süditalienern, die in den vergangenen 15 Jahren in den Norden gekommen sind, waren mehr als 70 Prozent jünger als 34 Jahre. "Mangels einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft richtet sich die einzige Hoffnung auf staatliche Hilfen", schreibt der neapolitanische "Gomorrha"-Autor Roberto Saviano. Ex-Ferrari-Chef Luca di Montezemolo warnt: "Der Süden ist heute Italiens Problem Nummer eins."

Italien: So stellt sich der Künstler TVBoy in Mailand den Schulterschluss des Rechtspopulisten Silvio Berlusconi (Forza Italia, links) und dem Parteichef der Demokraten, Matteo Renzi, vor.

So stellt sich der Künstler TVBoy in Mailand den Schulterschluss des Rechtspopulisten Silvio Berlusconi (Forza Italia, links) und dem Parteichef der Demokraten, Matteo Renzi, vor.

(Foto: Marco Bertorello/afp)

Der Triumph der Populisten bei den Wahlen war ein Schock. Im reichen Norden wählten diejenigen, die sich von den Segnungen der Globalisierung ausgeschlossen fühlen, die nationalistische, fremdenfeindliche Lega. Sie verspricht Strafzölle und die drastische Absenkung der Steuern auf 15 Prozent. Im abgehängten Süden gewann Di Maio mit der Parole "Mehr Staat". Das zeigt: Die Kluft zwischen den beiden Landesteilen hat sich in der Wirtschaftskrise dramatisch vertieft. Europas größtes Schuldenland hat wieder Fuß gefasst hat, doch es steht nun vor einer Zerreißprobe, die das gefährlichste Erbe der Rezession ist. Das neue Parlament spiegelt diese Spaltung wider: Es bildeten sich drei inkompatible Blöcke - eine Regierungsmehrheit ist nicht in Sicht. Die gegensätzlichen Erwartungen, die Nord- und Süditaliener an die Volksvertreter richten, sind unvereinbar.

War das Wahlergebnis wirklich ein Schock? Am Tag danach legte die Aktie des Bremsenherstellers Brembo an der Mailänder Börse einen Kursanstieg von 7,9 Prozent hin. Der Autozulieferer aus Bergamo hatte 9,5 Prozent mehr Gewinn und eine Umsatzsteigerung von 8,1 Prozent gemeldet. 2017 habe man bewiesen, dass sich die hohen strategischen Investitionen in neue Märkte in kurzer Zeit rentieren, sagte der Unternehmer Alberto Bombassei. Überhaupt war an der Börse keine Panik zu spüren. Auch in der ersten Woche nach dem Wahldesaster gingen die Kurse weiter aufwärts. Warum ist das so?

Immerhin hat man in Rom keinen blassen Schimmer, wie es nun im Land mit dem drittgrößten Schuldenberg der Welt weiter gehen soll. Die Anleger haben dennoch die Ruhe weg. Die Risikoprämie für italienische Staatsanleihen ist seit der Wahl leicht gesunken.

Gewiss: Noch greift die EZB mit ihrem Kaufprogramm den überschuldeten Italienern unter die Arme. Aber das Ende der Stützaktion ist absehbar. Stabilisierend wirkt auch, dass der Anteil ausländischer Gläubiger seit der Beinahe-Pleite 2011 stark gesunken ist. Vor allem aber hat der Aufschwung Italien verändert. Das Haushaltsdefizit fiel 2017 mit 1,9 Prozent niedriger aus als geplant. 2018 soll die Etatlücke auf 1,6 Prozent schrumpfen. Die horrende Schuldenquote ging erstmals seit zehn Jahren leicht zurück, auf 131,5 Prozent. "Wir hinterlassen einen geordneten Haushalt", twitterte der scheidende Finanzminister Pier Carlo Padoan.

Im 28. Stock des Mailänder Unicredit- Turms strahlt Jean Pierre Mustier Zuversicht aus. In Spanien, Belgien und Deutschland sei die Konjunktur angezogen, obwohl sich auch dort nach den Wahlen nicht gleich eine Regierung abzeichnete, bemerkt der Chef des Geldkonzerns. "Wir glauben, dass sich das Wachstum in Italien fortsetzt und das Land zu den Siegern Europas gehören wird", sagt der Franzose. Aus Frankfurt meldete sich Mario Draghi etwas vorsichtiger zu Wort. "Eine dauerhafte politische Instabilität kann das Vertrauen untergraben", warnte der EZB-Chef, ohne Italien zu erwähnen.

Gegenwärtig ist das Vertrauensklima in der italienischen Wirtschaft so gut wie seit dem Ausbruch der Krise 2008 nicht mehr. Beispiel Metallindustrie: Die Produktion ist 2017 um 2,9 Prozent gestiegen. Der Handelsüberschuss der Branche erreichte 52 Milliarden Euro. "Das Wachstum fällt nicht vom Himmel", sagt Alberto dal Poz, Präsident der Metallverbandes. Den Aufschwung verdanke man auch "dem unternehmensfreundlichen Umfeld in den vergangenen Jahren". Maßnahmen wie die Arbeitsmarktreform und das Förderprogramm Industria 4.0 dürften auf keinen Fall angetastet werden. Auch die grassierende Europa-Feindseligkeit seiner Landsleute verfolgt Dal Poz mit Unbehagen. "Wir brauchen heute mehr denn je ein starkes Europa, um auf Trumps Handelskrieg zu reagieren", sagt der Turiner.

Mit einer spektakulären Kurswende in Rom rechnet der Unternehmer nicht. "Am Ende werden Vernunft und Verantwortungsgefühl überwiegen", sagt er. Der ehemalige Premier Mario Monti, der Italien 2012 mit drakonischen Sparmaßnahmen vor der Staatspleite gerettet hat, vertraut auf das EU-Korsett. Zum Glück gebe es ja Europa mit seinen Regeln, die den Handlungsspielraum der Regierungen begrenzen. Seine Rentenreform etwa, die den Italienern den Ruhestand mit 67 Jahren aufzwang, wollen Lega und Cinque Stelle rückgängig machen. Das würde 20 Milliarden Euro im Jahr kosten. "Europa liefert den Parteien ein gutes Alibi, ihre Wahlversprechen zu vergessen", sagt Monti.

Die Optimisten ignorieren allerdings, wie stark Italien auseinanderdriftet. Im Nordosten jubelt der Unternehmer Alberto Baban: "Venetien wächst wie China". Die Industrieproduktion stieg im Hinterland Venedigs im vierten Quartal um 6,3 Prozent. Die Regionen Lombardei und Emilia Romagna melden ähnliche Zahlen. Zugleich stürzte Sizilien in der Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 237 der 263 europäischen Regionen. Zwischen 2001 und 2016 schrumpfte die süditalienische Wirtschaft um 7,2 Prozent. Vom Aufschwung merkt man wenig. Aus Mailand, dem Kraftzentrum des Post-Krisen-Italien, empfiehlt der sozialdemokratische Bürgermeister Giuseppe Sala der künftigen Regierung die Renaissance seiner Stadt als Modell. Bereits vor der Wahl hatte Sala gewarnt: "Wenn Italien uns nicht folgt, dann wendet sich Mailand an Europa". Die Mailänder ließen seinen Worten Taten folgen: Sie wählten am 4. März Bruno Tabacci ins Parlament, den Direktkandidaten der Partei "Mehr Europa".

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