Italien:Die Wiedergeburt Turins

Die Krise von Fiat hat die italienische Stadt hart getroffen, das brachte ihr Schwung für den Wandel - jetzt entdecken sogar Chinesen die Region am Fuß der Alpen

Ulrike Sauer

Als Lou Tik vor drei Jahren in die Geburtsstadt des italienischen Autos kam, lebte Giovanni Agnelli nicht mehr, und Fiat galt als Konzern ohne Zukunft.

Wiedergeburt Turins

Fiat-Zentrale: Die Krise des Autoherstellers brachte den wirtschaftlichen Wandel.

(Foto: Foto: dpa)

Die krisengeschüttelte Industriemetropole am Fuß der Alpen steckte mitten im Umbruch. Trotzdem fand der Chinese Tik in Turin, wonach er zuvor schon in Detroit und Coventry vergeblich gesucht hatte: den geeigneten Standort für das erste ausländische Designzentrum des Automobilherstellers JAC Anhui Jianghuai aus der südostchinesischen Provinz Anhui.

JAC ist eines von mehr als 90 Unternehmen, die die regionale Förderagentur ITP bisher ins Piemont gelockt hat. Andere kommen auf eigene Faust, neue Industriezweige prosperieren. 2006 flossen 4,8 Milliarden Euro Direktinvestitionen in die Region. Aus Turin, einst abgestempelt als Fiat-Stadt, ist längst mehr geworden.

Wandel zur Wissensfabrik

Als der Autokonzern vor sechs Jahren an den Rand der Abgrunds schlitterte, traf die Existenzkrise von Fiat Turin ins Mark. Das brachte den nötigen Schwung für den wirtschaftlichen Wandel. Heute definieren die städtischen PR-Leute Turin als "Wissensfabrik''. Das mag der Wirklichkeit vorgreifen. Doch Forschung, Roboterbau, Nanotechnologie, Luftfahrt, Kultur- und Tourismusindustrie sind auf dem Vormarsch.

Manager Tik bezog mit seinem 20 Leute starken Entwicklungsteam ein stillgelegtes Reparaturwerk der italienischen Staatsbahnen aus der Gründerzeit. "Ausschlaggebend war für uns der Zugriff auf ein 360-gradiges Netzwerk in der Autoindustrie'', sagt er. Designchef Tullio Ghisio und sein europäisches Team beschäftigen sich nun mit ungewöhnlichen Fragen. Was ist chinesisches Design? Wie denken Chinesen? Sie sollen dem fernöstlichen Hersteller aus Turin auf die Sprünge helfen. "Das größte Problem der Chinesen sind sehr lange Entwicklungszeiten von sechs Jahren'', sagt Ghisio, der aus der Turiner Designschmiede Giugiaro kommt.

Die Ansiedlung des Autoherstellers JAC ist ein Aushängeschild der Förderagentur. "Unser Rezept ist, Synergien zwischen Industrie, Forschung, Universitäten und den Institutionen herzustellen'', sagt ITP-Präsidentin Maria Pia Valetto. 2007 steht sie 30 neuen Firmen zur Seite. "Wenn Turin und Fiat sich vollständig voneinander abnabeln, werden beide aus eigener Kraft besser vorankommen'', ist ihr Credo.

2.850 Euro für eine Stunde

Bei Tiks Nachbarn auf dem ehemaligen Eisenbahngelände sieht man, wie die wirtschaftliche Monokultur der Barockstadt aufbricht. "Turin hat sich total verändert'', versichert Antonio Strumia, Direktor des Istituto Mario Boella, ein Zentrum für angewandte Forschung auf dem Feld drahtloser Kommunikation. Stolz weist der Elektronikingenieur auf die Spuren des Wandels vor seiner Institutstür. Kräne ragen in den Himmel. Die nächste Großbaustelle gehört Microsoft.

230 Forscher arbeiten im Institut Mario Boella zwischen gusseisernen Säulen aus der Zeit der industriellen Revolution an der Entwicklung neuer Glasfasern, an Anwendungen des Satellitennavigationssystems Galileo, an betrugssicheren Funkcodes und an Netzwerklösungen für die Finanzbranche. Gegründet wurde es vor sieben Jahren von der Sparkassenstiftung Compagnia San Paolo und dem Polytechnikum. Heute sind Industriepartner wie Motorola, SKF, STMicroelectronics und Telecom Italia mit an Bord. In Zeiten, in denen der Schnelle den Langsamen fresse, sei die technologische Kompetenz "die Trumpfkarte der Region'', sagt Strumia mit einer Begeisterung, die für die Turiner ganz untypisch ist.

Die Wiedergeburt Turins

Wollte man dem neuen Turin ein Gesicht geben, so könnte es das von Francesca Cogotti sein. Die 29-jährige Luftfahrtingenieurin vom Polytechnikum leitet beim traditionsreichen Industriedesigner und Karosseriebauer Pininfarina die Tests im Windkanal. Der frische Luftzug, der durch das Detroit Italiens weht, erreicht bei der schwungvollen Piemontesin per Knopfdruck 250 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit. 14 Gebläse rotieren dann für ihre Kunden aus aller Welt. Das neue patentierte Laufband T-Belt erlaubt es dem Pininfarina-Forschungszentrum für Aerodynamik, auch die Bodeneffekte besser zu simulieren. "Manche machen bei uns gleich 60 Tests'', sagt Cogotti. Die Klientel besteht hauptsächlich aus Autoherstellern, viele schicken ihre Prototypen aus Japan und den USA nach Turin. Für eine Stunde Windkanal zahlen sie 2.850 Euro.

Fiat-Effekt

Viel ist in Schwung gekommen. Vier Jahre nach dem Tod von Konzernpatriarch Agnelli hat man unerwartet sogar Fiat wieder flottbekommen. Die Renaissance der Automarke hob die Stimmung und die nationale Wirtschaftsleistung. 20 bis 30 Prozent des italienischen Wachstums waren 2006 dem Fiat-Effekt zuzuschreiben, rechnete der Ökonom Mario Deaglio aus.

Selbst in Mirafiori, einst das größte Autowerk Europas und Epizentrum des schweren Fiat-Bebens, ist der Aufschwung nicht zu übersehen. Um den Produktionsanstieg zu meistern, wird mit den Gewerkschaften gerade über Sonderschichten verhandelt. In einer der verlassenen Werkshallen, der Officina 83, weihte Fiat-Retter Sergio Marchionne im Juli das neue Centro Stile ein. Zehn Millionen Euro kostete der Umbau. In dem Designzentrum entstehen die neuen Modelle von Fiat, Lancia und Maserati. Die Entwickler aus der Lkw- und Landmaschinensparte werden auch noch einziehen. "Mirafiori ist zum Emblem der industriellen Renaissance von Fiat geworden'', sagte der Konzernchef.

Weitere Schritte, um Mirafiori wiederzubeleben, sind geplant. 2008 soll hier der kleine Alfa in Produktion gehen. Marchionne setzt auf Dialog. "Fiat will weder Gast sein noch Hausherr'', versichert der gefeierte Manager. In Turin müssen sich daran alle erst gewöhnen.

Auch die Olympia-Euphorie ist nicht verpufft. Die Ausrichtung der Winterspiele vor anderthalb Jahren beschleunigte die Abnabelung von Fiat und den Umbruch Turins. Die Wettkämpfe hinterließen eine bessere Infrastruktur und eine schönere Stadt. In fünf Jahren stieg die Zahl der Besucher Turins um 50 Prozent. Die Kultur blüht. Und nun kehrte Fußball-Rekordmeister Juventus nach dem Abbüßen seiner Korruptionsstrafe auch noch in die erste Liga zurück.

Als nächstes wollen die Turiner Versailles mit ihrer Königlichen Venaria in den Schatten stellen. Am 12. Oktober öffnet das Savoyer Residenzschloss nach achtjähriger Restaurierung und drei Jahrhunderten Verwahrlosung. In das von 100 Hektar Gärten umgebene Barockjuwel "projiziert das Piemont seine auf Tradition und Innovation gründende Zukunft'', sagt die Regionalgouverneurin Mercedes Bresso. Das Schloss soll 2011 im Mittelpunkt der 150-Jahr-Feiern zur Einheit Italiens stehen, wenn über der ehemaligen Hauptstadt erneut ein warmer Millionenregen niedergehen wird.

(SZ vom 8.9.2007)

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