Italien:Der Staat holt aus

Aftermath Of The Morandi Bridge Collapse in Genoa

Der Verkehrsminister von der Protestpartei Cinque Stelle will nach dem Brückenunglück die Privatisierung der Autobahn rückgängig machen.

(Foto: Jack Taylor/Getty Images)

Italiens nationalistische Regierung nutzt den Brückeneinsturz bei Genua, um ein Tabu zu brechen: Plötzlich wird über Verstaatlichungen diskutiert.

Von Ulrike Sauer, Rom

Beppe Grillo reagiert auf den Brückeneinsturz in Genua aus dem Bauch. Er ruft zum "zivilen Ungehorsam" auf. In Italien seien die Autobahnen an Privatunternehmen verschenkt worden. Und die verdienten nun Milliarden an ihren Lizenzen, rügt der Gründer der Protestpartei Cinque Stelle. Um dieses Unrecht zu beseitigen, fordert der 70-jährige Komiker die Autofahrer auf: "Bezahlt keine Mautgebühren!" Grillos junges Gefolge an der Regierung ist da viel weiter. Die Cinque Stelle-Minister brachten im Handumdrehen die Enteignung der privaten Betreiber der Autobahnen auf den Weg. Voran stürmt diesmal Danilo Toninelli, 44. Der Minister für Verkehr und Infrastrukturen will die 1999 erfolgte Privatisierung des Autobahnnetzes rückgängig machen. "Stellen Sie sich vor, wie viel Einnahmen und Gewinne in die Hände des Staates zurückkehren würden", malt er sich aus. Und denkt hauptsächlich an Italiens größtes Mautunternehmen Autostrade per l'Italia, das mehr als 3000 Kilometer Autobahnen betreibt, darunter auch das Teilstück der A 10, an dem die eingestürzte Brücke liegt. Das Unternehmen habe in den vergangenen 15 Jahren zehn Milliarden Euro Gewinn eingestrichen. Anstatt das Geld für Dividenden zu verschwenden, könnte es für die Verbesserung des Netzes ausgegeben werden, sagt Toninelli.

1992 herrschte die Politik über 49 Prozent der Industrie- und Dienstleistungswirtschaft

Die Brückenkatastrophe mit 43 Todesopfern macht das Unvorstellbare plötzlich denkbar: Renationalisierung ist in Italien das Wort der Stunde. Es ist ein klassischer "Schwarzer Schwan", wie ihn Nassim Nicholas Talebs in seinem Bestseller über die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse beschrieben hat.

Setzt die Regierung ihre Ankündigungen um, erlebt Italien mit dem Comeback des Staates als aktiver Spieler in der Wirtschaft eine radikale Wende im Privatisierungskurs, den es vor einem Vierteljahrhundert eingeleitet hat.

Das bankrottreife Land eroberte in den 1990-er Jahren auch mit den Einnahmen aus der Zerschlagung der größten Staatswirtschaft der westlichen Welt seinen Platz in der Währungsunion. Ein wichtiger Regisseur der Privatisierungen war damals Mario Draghi. Als Generaldirektor des römischen Schatzministeriums organisierte der spätere EZB-Chef den Verkauf der großen staatlichen Energiekonzerne, der Telecom, der Banken. Es war das Ende des römischen Staatskapitalismus. 1992 herrschte die Politik über 73 Prozent der Banken und 49 Prozent der Industrie- und Dienstleistungswirtschaft. Von 1996 an trieb Regierungschef Romano Prodi die Privatisierungen voran, um sein Land für den Euro-Start fit zu machen. 140 Milliarden Euro flossen in die Staatskassen. Den meisten Unternehmen ist der Verkauf gut bekommen. Einige wurden zu hochprofitablen Firmen.

Heute wollen die Populisten das rückgängig machen. Der Staat soll in der Wirtschaft wieder mehr zu bestimmen und Europa in Italien weniger mitzureden haben. Das Nein zu einem modernen, europäischen Land zieht sich wie ein roter Faden durch die ersten 13 Wochen der nationalistischen Regierungskoalition. Die Abneigung gegen die Marktwirtschaft ist offenkundig. Beim Pleiteflieger Alitalia wurde die Verkaufsfrist verlängert. Statt den Bietern Lufthansa, Easyjet oder Wizzair den Zuschlag zu geben, favorisieren die Cinque Stelle eine Renationalisierung der maroden Fluggesellschaft. "Wir brauchen Alitalia, um die Lenkung der Touristenströme der Zukunft unter eine politische Regie zu stellen", sagte Industrieminister Luigi Di Maio auf Radio24. Spekuliert wird über einen Einstieg der Staatsbahnen FS oder der Kreditanstalt CDP. Auch beim insolventen Stahlkonzern Ilva, der vor einem Jahr von Arcelor-Mittal übernommen wurde, liebäugelt der 32-jährige Berufspolitiker mit der Rückkehr des Staates.

Di Maio übernahm in der Verleumdungskampagne gegen die Unternehmerfamilie Benetton, die von der Regierung für den Brückeneinsturz verantwortlich gemacht wird, die Rolle des Scharfmachers. Er machte über die sozialen Medien und im Fernsehen Stimmung. Der Minister sagte etwa: "Diese Herren zahlen in Italien nicht einmal ihre Steuern". In Wirklichkeit haben der Infrastrukturkonzern Atlantia und deren Mauttochter Autostrade ihren Sitz in Rom, wo sie von jeher steuerpflichtig sind. Die Finanzholding Edizione, über die die Familie Benetton den Konzern Atlantia mit 30 Prozent kontrolliert, legte ihren Sitz im Jahr 2012 aus Luxemburg ins heimatliche Treviso zurück. Erlogen ist auch die Behauptung, die Benettons würden mit ihren Beteiligungen an drei führenden Zeitungsverlagen eine kritische Berichterstattung über das Brückenunglück unterbinden. Edizione Holding hat ihre Mini-Anteile längst verkauft. Das aber spielt keine Rolle. Die Bedienung von Feindbildern ist ein Selbstläufer im Netz und steigert die Popularität der Regierung Monat für Monat.

Atlantia verlor seit dem 14. August an der Börse ein Viertel an Wert. Die Gefahr einer Verstaatlichung schlug die Anleger, darunter viele internationale Investoren, in die Flucht. Ob es überhaupt so weit kommt, ist fraglich. Erstens dürften sich die Anwälte der beiden Seiten vor einem Entzug der Lizenz lange Gefechte vor Gericht liefern. Zweitens ist im Lizenzvertrag eine Entschädigung für den Fall eines Widerrufs der Konzession vorgesehen. Er könnte den Steuerzahler 15 bis 20 Milliarden Euro kosten.

Die Chefs der Bahngesellschaft feuert der Minister mal eben mit einem Facebook-Eintrag

Drittens hat der Koalitionspartner Lega nicht vergessen, dass die Italiener mit ihrem Staat als Unternehmer üble Erfahrungen gemacht haben. Das Gerede vom Überraschungscoup, mit dem die Regierung Autostrade die Lizenz per Eilgesetz wegnehmen und an die staatliche Straßenbaugesellschaft Anas übergeben will, beendete Giancarlo Giorgetti, ein einflussreicher Lega-Staatssekretär. "Ich sehe keine Voraussetzungen dafür", erledigte der Mann im Regierungsamt das Thema. "Ich bin zudem nicht davon überzeugt, dass ein direkter Eingriff des Staates effizient wäre", sagte Giorgetti. Kein Wunder: Die Straßenbaugesellschaft Anas stand im Ruf, das Sündenbabel der italienischen Staatswirtschaft zu sein. Die Justiz hat das römische Unternehmen in ihren Ermittlungen als Epizentrum der Korruption und Vetternwirtschaft entlarvt.

Eine Regierung, zwei gegensätzliche Standpunkte: Das ist seit Juni Koalitionsalltag. Dafür widmeten sich die Parteien umso intensiver der Eroberung wirtschaftlicher Schlüsselposten. So wurden die Chefs der Kreditanstalt CDP, des Rundfunksenders RAI und des Finanzamts gefeuert. Die Spitzen des italienischen Bahnkonzerns schmiss Minister Toninelli via Facebook raus: "Ich habe soeben die Absetzung des kompletten Verwaltungsrats der Ferrovie dello Stato angeordnet, um einen Schnitt mit der Vergangenheit zu machen". Leute wie Tito Boeri, Chef der Sozialversicherungsanstalt INPS, oder Mario Nava, Italiens oberster Börsenaufseher, stehen unter Dauerbeschuss. Die Angriffe schüren die wachsende Nervosität an den Finanzmärkten. Denn während die Strategie der Rache und der Einschüchterung wirtschaftlich Mächtiger von der Mehrheit der Italiener goutiert wird, schreckt sie ausländische Investoren ab. Allein im Juni verkauften sie italienische Staatsanleihen für 38 Milliarden Euro.

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