Süddeutsche Zeitung

Interview mit Bahn-Chef Grube (Teil II):"Es hilft nicht, Kritiker als ignorant abzustempeln"

Bahn-Chef Rüdiger Grube kämpft an vielen Fronten. Ein Gespräch über die Fahrpreis-Nullrunde, ICE-Engpässe, Lohnpolitik als Notwehrstrategie und die Kommunikation des Konzerns.

Marc Beise und Daniela Kuhr

Der Mann steht unter Strom. Klein, drahtig, vibrierend. Rüdiger Grube, 59, betritt, nein, stürmt in den Raum und packt bereits das erste Thema. Gerade war er auf einer Veranstaltung zum bitter umstrittenen Bahnhofsprojekt Stuttgart, hat dort geredet und geredet. Über Zahlen, Verträge, Vertrauen. Jetzt redet er wieder, über Bahnpreise, Tarifpolitik, ICE-Mängel, Einkaufsstrategie. Ein Mann aus der verschwiegenen Großkonzern-Hierarchie, nicht geeignet für die öffentlichste Firma des Landes, hieß es beim Amtsantritt im Frühjahr 2010. Von wegen: Selten war ein Bahn-Chef so präsent wie dieser.

SZ: Herr Grube, immer wenn es kalt und dunkel wird, erhöht die Deutsche Bahn im Fernverkehr die Preise - so kennen wir das seit Jahren. Diesmal lassen Sie die Preiserhöhung ausfallen . . .

Rüdiger Grube: Ach so, beklagen Sie sich darüber?

SZ: Keineswegs. Wir fragen uns nur, ob das ein Akt schlechten Gewissens ist, eine Entschuldigung an die Verbraucher für die unzähligen Pannen?

Grube: Nein, für die Unannehmlichkeiten haben wir uns bereits entschuldigt und übrigens über vier Millionen Euro an freiwilliger Entschädigung an die Hitzewellen-Geschädigten ausgezahlt. Mit dem jetzt verkündeten Verzicht auf eine Preiserhöhung wollen wir im Sinne unserer Kundeninitiative einen echten Anreiz schaffen, um unsere bisherigen Fahrgäste weiter ans uns zu binden und um neue Kunden zu gewinnen - vor allem von anderen Verkehrsträgern.

SZ: Immerhin loben Sie jetzt sogar die Bahnkritiker. Und fordern gleich, dass die Bahn künftig grundsätzlich auf Preiserhöhungen verzichten sollte.

Grube: Wenn das so einfach wäre. Ich sage immer: Als Bahn-Chef muss ich sowohl die Interessen unserer Kunden als auch die des Eigentümers im Blick haben. Schließlich sind wir ja schon per Grundgesetz dazu verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten. Der diesjährige Verzicht auf Preiserhöhungen ist daher eine echte Kraftanstrengung für den Konzern, und das können wir uns nur in Ausnahmefällen und schon gar nicht jedes Jahr leisten.

SZ: Im Nah- und Regionalverkehr steigen die Preise um 1,9 Prozent. Ihren Mitarbeitern dagegen verweigern Sie bisher eine Erhöhung der Bezüge, schlimmer noch: Sie umgehen mit der Gründung von GmbHs im Regionalverkehr den bisherigen Tarifvertrag, Es kann zu Streiks kommen, Leidtragende sind wieder die Bahnkunden.

Grube: Moment mal, da vermischen Sie aber einiges. Die Tarifverhandlungen laufen doch gerade. In diesem Jahr ist das nicht einfach nur eine Entgeltrunde, es geht um komplizierte Fragen eines Branchentarifvertrags und um Beschäftigungssicherung. Wir setzen weiter auf eine Lösung am Verhandlungstisch. Im Übrigen sind wir strikt gegen Lohndumping. Und wir kämpfen dafür, dass Wettbewerb nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen wird. Richtig ist, dass wir immer öfter vor der Wahl stehen, eine Ausschreibung zu verlieren oder eine Gesellschaft zu gründen, die nicht den vollen Tarif des Konzerns zahlt. Das ist schlichtweg Notwehr. Wenn wir bei einer Ausschreibung nicht zum Zug kommen, weil wir eben bis zu 30 Prozent höhere Löhne zahlen als die privaten Wettbewerber und daher das schlechtere Angebot machen müssen, bedeutet das den Verlust von Arbeitsplätzen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen: Der Verlust von einer Million Zugkilometern bedeutet den Verlust von 50 Arbeitsplätzen.

SZ: Preise und Tarifverhandlungen sind ja noch das leichtere Geschäft. Bei der Bahn brennt es an allen Ecken und Enden. Massendemonstrationen in Stuttgart, genervte Kunden in mangelhaften ICEs, streitlustige Politiker im Verkehrsausschuss. Haben Sie sich das so vorgestellt, als Sie das Amt des Bahn-Chefs übernahmen?

Grube: Nein. Mir war zwar bewusst, dass dieses Unternehmen große öffentliche Aufmerksamkeit genießt, aber dass gleich in meinem ersten Jahr so viele Themen auf mich zukommen würden, hat mich dann doch überrascht. Heute habe auch ich dazugelernt. Als Außenstehender habe ich die hohe Komplexität des Unternehmens unterschätzt. Aber wir haben die Aufgaben im Vorstand inzwischen sehr gut aufgeteilt und meine Arbeit macht mir großen Spaß.

SZ: Stört es Sie nicht manchmal, dass bei der Bahn so viele mitreden?

Grube: Man muss nur die richtige Einstellung dazu entwickeln. Als ich mein Amt antrat, dauerte es etwa 14 Tage, bis ich merkte, dass sich die Kommunikation gegenüber Kritikern grundlegend ändern muss. Es hilft nicht weiter, Kritiker als ignorant abzustempeln. Stattdessen habe ich beschlossen, es positiv zu sehen. Wenn Menschen sich zur Bahn äußern, dann heißt das, dass sie sich für das Unternehmen interessieren. Und das ist doch erfreulich.

SZ: Und von der Politik sind Sie nicht enttäuscht?

Grube: Warum sollte ich von der Politik enttäuscht sein?

SZ: Als Manager, der in verschiedenen Großkonzernen Karriere gemacht hat, sind Sie gewohnt, effektiv und zielgerichtet Entscheidungen zu treffen. Bei Politikern aber spielen auch sachfremde, zum Teil populistische Überlegungen eine Rolle. Nervt Sie das nicht?

Grube: In den eineinhalb Jahren, die ich jetzt dabei bin, habe ich kein einziges Mal erlebt, dass mir jemand aus der Regierung etwas vorschreiben wollte. Ganz im Gegenteil. Es gab Situationen, in denen ich glaubte, informieren zu müssen. Beide Male war die Antwort: Ordnungspolitisch ist das die Entscheidung der Deutschen Bahn.

SZ: Sie meinen die ganzseitigen Zeitungsanzeigen, in denen Vertreter der Wirtschaft die Regierung dafür kritisierten, dass sie zu schnell aus der Atomenergie aussteigen wolle?

Grube: Nein. Aber zur Zeitungsanzeige sage ich gern etwas. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Befürworter der Atomenergie, aber die Deutsche Bahn ist Deutschlands größter Stromverbraucher. Wir haben heute zwei Selbstkostenverträge, bei denen die Brennelementesteuer direkt mit 70 Millionen Euro durchschlägt, ohne dass bei uns auch nur eine Kilowattstunde zusätzlich ankommt.

SZ: Also sind Sie doch ein Freund der Atomenergie?

Grube: Nein, und darum ging es in dem Appell auch gar nicht. Den Unterzeichnern ging es vielmehr darum, Zeit zu bekommen, um die Umstellung von Atomenergie auf regenerative Energien reibungslos bewerkstelligen zu können. Die Deutsche Bahn ist doch schon Vorreiter. Von der Energie, die wir benötigen, beziehen wir bereits 18,5 Prozent aus regenerativen Quellen. Bis 2020 sollen es 30 Prozent sein und bis 2050 dann 100 Prozent. Nur, das gelingt uns nicht von heute auf morgen. Angenommen, wir würden ab morgen voll auf regenerative Energie umstellen, dann würde ein Großteil unserer Züge stehenbleiben, weil es leider regenerative Energie in solchem Umfang heute noch nicht gibt. Ich habe mir diese Fakten genau angeschaut und mich intensiv mit dem Thema beschäftigt.

SZ: Es gab aber auch Manager, die das Verhältnis zur Regierung nicht belasten wollten und deshalb auf eine Unterschrift verzichtet haben.

Grube: Ja, aber so bin ich nicht. Mir ist von zu Hause Geradlinigkeit und Glaubwürdigkeit anerzogen worden. Bei uns hieß es: Junge, du musst Rückgrat beweisen. Und deshalb halte ich es für meine Pflicht, zu einer Meinung, die ich mir gebildet habe, auch zu stehen. Vielleicht ist das nicht immer klug, aber Opportunismus überlasse ich anderen. Populismus lehne ich total ab.

SZ: Ein anderes Thema: Haben Sie eigentlich Angst vor dem Winter?

Grube: Was meinen Sie?

SZ: Na, wegen der ICEs.

Grube: Es stimmt: Da sind wir nicht sorgenfrei. Denn es steht jetzt schon fest, dass es weiterhin Herausforderungen geben wird, und zwar nicht nur im Winter, sondern wie ich schon mehrfach gesagt habe, mindestens noch rund drei Jahre. Das hat folgenden Grund: Wir haben 252 ICEs. Wegen der mit dem Eisenbahn-Bundesamt verabredeten zehnmal häufigeren Ultraschall-Kontrollen der Achsen fehlen uns zwölf bis 14 Garnituren im täglichen Einsatz. Weitere Züge fallen aus, weil zum Beispiel ein Müllwagen dagegengefahren ist. Nichts, wofür man die Deutsche Bahn verantwortlich machen könnte. Insgesamt sind also zwei Dutzend Züge nicht einsatzbereit . . .

SZ: . . . das entspricht zehn Prozent Ihrer Flotte . . .

Grube: . . . und damit genau dem, was man eigentlich als Reserve haben müsste. Mit anderen Worten: Was den ICE anbelangt, fahren wir quasi ohne Reserve. Wir bedauern das zutiefst und setzen alles daran, die Folgen für die Fahrgäste so gering wie möglich zu halten. Aber eine schnelle Lösung gibt es nicht, denn die neuen Radsätze müssen erst vom Eisenbahnbundesamt zugelassen werden, dann wird getestet und erst anschließend sukzessive eingebaut, parallel müssen wir den Fahrplan abfahren.

SZ: Mit welchen Folgen?

Grube: Bis 2014 werden die Kunden gelegentlich mit Einschränkungen rechnen müssen. Erst dann sind sämtliche Achsen ausgetauscht und die neuen Züge im Einsatz.

SZ: Aber Ende nächsten Jahres bekommen Sie doch die ersten von 15 neuen ICE-3-Zügen.

Grube: Damit wollen wir eigentlich von Frankfurt nach Marseille fahren und später auch nach London. Aber wenn wir dann immer noch in Deutschland einen Engpass haben, werde ich das nicht zulassen. Ich lasse keine neuen Züge ins Ausland fahren, solange wir das Geschäft in Deutschland nicht im Griff haben. Da bin ich mir mit meinem Vorstandskollegen Ulrich Homburg völlig einig. Deutschland - unser Heimatmarkt - hat Vorfahrt.

SZ: Wie verträgt sich denn der Kauf des britischen Transportunternehmens Arriva mit dieser Aussage? Sie haben 1,7 Milliarden Euro ausgegeben und damit den Schuldenberg der Bahn beträchtlich erhöht, obwohl Ihre Züge hierzulande alles andere als reibungslos fahren.

Grube: Erstens: Bei Arriva geht es doch gar nicht um Fernverkehr. Das Unternehmen betreibt Regionalverkehr in zwölf europäischen Ländern. Diese Chance konnten wir uns nicht entgehen lassen. Und außerdem: Deshalb wird in Deutschland von uns nicht ein Cent weniger investiert. Wenn Sie fragen: War es der optimale Zeitpunkt für einen Kauf? Dann sage ich: Nein, ich hätte gern noch zwei Jahre gewartet. Nur, in zwei Jahren wäre Arriva nicht mehr auf dem Markt gewesen.

SZ: Kann es denn ernsthaft Aufgabe eines deutschen Staatskonzerns sein, Regionalverkehr in Großbritannien, Italien und Spanien zu fahren?

Grube: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir nicht schrumpfen und jedes Jahr Arbeitsplätze vernichten wollen. Denn im Inland verlieren wir im Regionalverkehr zunehmend Marktanteile. Das ist politisch gewollt, schließlich soll der Wettbewerb noch intensiver werden. Ich kann also nur versuchen, verlorenes Geschäft im Inland mit neuem Geschäft im Ausland zu kompensieren. Jetzt werden die Weichen für die weitere Liberalisierung und Konzentration der europäischen Schienenverkehrsmärkte gestellt. Wer in dieser Phase seine Chancen nicht beherzt ergreift, wird im Wettbewerb um eine gute Marktposition zurückfallen. Die DB will ihre Wettbewerbsposition stärken und ausbauen, Es geht also darum, hier Treiber zu sein und nicht Getriebener. Die französische Staatsbahn SNCF erzielt heute außerhalb von Frankreich schon 1,8 Milliarden Euro Umsatz im Regionalverkehr. Das Transportunternehmen Veolia macht sogar knapp sechs Milliarden Euro Umsatz, während die Deutsche Bahn vor dem Kauf von Arriva gerade mal 250 Millionen Euro außerhalb ihres Heimatmarktes erzielte. Wir hatten also im europäischen Regionalverkehr Einiges aufzuholen.

SZ: Sie sagen, der Wettbewerb sei politisch gewollt. Verkehrsminister Ramsauer bremst aber stets, wenn es darum geht, den Einfluss der Deutschen Bahn auf das deutsche Schienennetz zu reduzieren. Dabei ist das eine der Hauptforderungen der privaten Konkurrenten.

Grube: Dass die Verbindung von Netz und Betrieb den Wettbewerb in Deutschland nicht behindert, kann man schon daran sehen, dass wir hierzulande mittlerweile 323 Konkurrenten haben - mehr als in allen anderen europäischen Ländern zusammen. Und die Marktanteile der Wettbewerber nehmen jedes Jahr weiter zu. Im Übrigen ist es doch nur logisch, dass Herr Ramsauer die Deutsche Bahn nicht zerschlagen, sondern als weltweit starkes Unternehmen erhalten will. Schließlich ist der Bund doch der Eigentümer.

SZ: Eben. Genau das ist das Problem. So lange die Deutsche Bahn in der Hand des Bundes ist, kann Herr Ramsauer nicht ernsthaft für mehr Wettbewerb sein. Denn dann würde er sein Eigentum ja beschädigen.

Grube: Glauben Sie mir, er ist ein großer Verfechter des Wettbewerbs. Aber er denkt dabei nicht nur an den deutschen Markt, sondern an Europa. Grenzüberschreitend kommt der Wettbewerb gerade erst in Gang. Parallel dazu findet eine Konsolidierung in der Branche statt. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass es in zehn Jahren nur noch fünf bis sechs große Bahnbetreiber in Europa geben wird. Die Deutsche Bahn, und da bin ich mir mit Herrn Ramsauer absolut einig, muss einer von ihnen sein.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2010/sop/hgn
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