Bis heute wird " Jesus Christ Superstar", 1971 als "Rockoper" uraufgeführt, immer wieder gespielt. Wer das Bibel-Musical mit den eingängigen Songs von Andrew Lloyd Webber kennt, der erinnert sich an das namensgebende Lied "Jesus Christ Superstar", in dem ein skeptischer Judas wissen will, warum Jesus ausgerechnet in einer so fernen Zeit in einem so seltsamen Land unter die Menschen gekommen ist. "Wenn du heute erscheinen würdest", singt Judas, "könntest du die ganze Nation erreichen. In Israel gab es vor 2000 Jahren keine Massenkommunikation."
Recht hat er, der Rock-Judas. Was immer heute irgendwo auf der Welt mit Menschen geschieht - wenn es sich nicht gerade mitten im Amazonas-Urwald oder nachts in der Rub-al-Chali, der saudischen Wüste, abspielt - wird wahrgenommen, jedenfalls wenn es von einiger Bedeutung ist. Es wird jemand in der Nähe sein, der mit einem Telefon fotografiert, der mit einem Tablet-Computer das Ereignis ins Netz stellt, der es twittert oder seine Whatsapp-Gruppe wissen lässt.
Nicht-Wissen scheint es in dieser Zeit der Total-Kommunikation nicht mehr zu geben - jedenfalls nicht jenes Nichtwissen, das Menschen daran zweifeln lässt, ob ein Epochenereignis wirklich geschehen ist. Die Geburt Christi in der Krippe oder sein Tod am Kreuz sind Glaubensfragen, weil es keine Beweise dafür gibt. Es sind Wunder, und die entziehen sich per definitionem der Logik. Den Gläubigen mutet schon der Versuch, Gott mit der menschlichen Vernunft verstehen zu wollen, sehr seltsam an. Für den Ungläubigen wiederum bedeutet Gott nichts anderes als den Versuch, das noch nicht Verstandene irrational oder esoterisch zu "erklären".
Das 21. Jahrhundert ist die Epoche der Augenzeugen
Was Judas im Musical so heftig einfordert, ist die Augenzeugenschaft oder jedenfalls die Möglichkeit zur Augenzeugenschaft. Dass dies offenbar ein sogar von Gott, gibt es ihn denn, anerkanntes, zutiefst menschliches Streben ist, zeigt sich sogar in der Bibel, in der Geschichte vom ungläubigen Thomas. Erst als der Auferstandene diesem Jünger seine Wunden vorweist, glaubt Thomas die Geschichte von der Überwindung des Todes. Thomas wird erst als Augenzeuge zum wirklichen Glaubenszeugen.
Wenn das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Ideologien war, die Ära des politischen Wunderglaubens, dann ist das 21. Jahrhundert die Epoche der Augenzeugen. "Massenkommunikation" bedeutet heute nicht mehr, dass wenige sehr vielen anderen etwas zeigen oder erklären, sondern dass potenziell jeder jedem anderen, der mit ihm vernetzt ist, etwas sagen oder vorweisen kann. Es wird nicht mehr von den wenigen zur Masse hin kommuniziert, sondern das, was man in der Sozialwissenschaft früher einmal das "Gespräch der Gesellschaft" genannt hat, ist letztlich ein Gesumme der Masse geworden. Jeder, der will, brummt mit. Im Matthäus-Evangelium heißt es, wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt seien, sei er unter ihnen. Wenn heute drei versammelt sind, glotzen zwei ins Smartphone und einer tippt eine SMS.
Dies ist kein Werturteil, sondern eine Beschreibung. Die Technologie der allgegenwärtigen Kommunikation hat das Leben in so kurzer Zeit so sehr verändert, wie das noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit der Fall war. Epochenbestimmende Erfindungen oder Phänomene haben die gesellschaftliche Evolution davor eher allmählich über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende vorangebracht oder wenigstens beeinflusst - die Zähmung des Feuers, die sesshafte Landwirtschaft oder die Güterproduktion mithilfe von gezielt angewandter Energie. Die Globalisierung aber, die ganz entscheidend von der Kommunikationstechnologie abhängt, hat das Leben auf der Erde innerhalb von gut 20 Jahren mehr verändert, als dies der gesamte zivilisatorische Prozess zwischen 800 und 1500 geschafft hat.
Die Totalkommunikation bedeutet, dass noch nie so viel öffentlich war wie heute. "Öffentlich" heißt zunächst einmal nicht mehr, als dass man theoretisch Augenzeuge von sehr vielem werden könnte, wüsste man denn, wo man es findet und was es bedeutet. Jene Firmen oder Organisationen, die sich dem Suchen, Ordnen und Hierarchisieren in dieser Augenzeugengesellschaft am erfolgreichsten widmen, sind tendenziell die Herrscher der neuen Zeit. Sie heißen Google oder Facebook, aber auch NSA oder CIA. Und wer häufiger mal bei Ebay, Amazon oder iTunes einkauft, der gibt viel mehr über sich und sein Leben preis, als das Einwohnermeldeamt, der Arbeitgeber und oft auch die Bekannten über ihn wissen.
Jeder der will, findet genug Beweise im Netz
Ein interessantes Phänomen ist das Entstehen vieler hermetischer Inseln im Ozean der Transparenz. Jeder ungläubige Thomas findet beim gezielten Befahren dieses Ozeans viele Gleichgesinnte. Er wartet gewissermaßen nicht mehr auf den Herrn, der ihm die Wunden zeigt, sondern seine Freunde und er weisen nach, dass der Herr sich die Wunden selbst beigebracht hat oder dass er gar nicht tot war. Im 18. Jahrhundert wurde das Aufspüren alternativer Wahrheiten und die Erklärung des Unerklärbaren von Geheimgesellschaften wie den Illuminaten oder den Freimaurern betrieben. Heute findet jeder, der will, genug Beweise im Netz für alles und kann sich so als Selbsterleuchter, als Eigenilluminat zumindest online jede ihm genehme Welt erschaffen. Auch das gehört zur Totalkommunikation.
Die Karriere der individualisierten Öffentlichkeit und die Kommunikation aller mit allen haben den Obskurantismus keineswegs besiegt oder auch nur zurückgetrieben. Die Vorstellung, etwas müsse nur öffentlich werden, damit es besser werde, ist falsch. Im Gegenteil, jene die daran glauben, dass sie im Auftrag eines Gottes oder einer nationalen Sendung Menschen töten und Grenzen verletzen, scheinen sich auf den beschriebenen hermetischen Inseln sehr wohl zu fühlen. Die Kopf-ab-Videos des Islamischen Staats beispielsweise finden ein weltweites Publikum - so etwas gab es in der Vor-Netzzeit bei vergleichbaren Barbareien nicht. In den optimistischen Siebzigerjahren dachten viele, dass mehr Öffentlichkeit auch mehr Aufklärung bedeuten würde. So ist es leider nicht gekommen.