Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt meist besorgt. Nach einer kurzen Einleitung kommt der Unternehmer in der Regel recht schnell auf den Punkt zu sprechen, der ihn beunruhigt. Was er denn machen solle, wenn eines Tages Amazon auch die Produkte aus seinem Hause übers Internet verkaufe? Ohne teure Vertriebs- und Serviceorganisation und damit dann deutlich billiger?
So oder so ähnlich lauten die Anfragen, die Philipp Depiereux beinahe täglich erreichen. Sie kommen aus dem Mittelstand und aus Großkonzernen, aus der Industrie und aus dem Service-Sektor. Für den Chef und Mitgründer des Start-Ups Etventure ist das nicht wichtig. Was für ihn zählt, ist vor allem: Wie kann ich das jeweilige Geschäftsmodell in die digitale Welt bringen? Und: Gibt es in diesem Unternehmen womöglich starke Kräfte, die sich der Digitalisierung verschließen? Denn das hat sich Depiereux zur Aufgabe gemacht: Unternehmen einen Weg in die digitale Zukunft zu weisen, sie zu beraten, wie sie ihre Kunden auch künftig noch erreichen können.
Dabei wendet Etventure mit seinen knapp 150 Mitarbeitern oft recht ungewöhnliche Methoden an. Zum Beispiel bei jenem Versicherungskonzern, der eine neue Versicherung für Sportartikel entwickeln und später auch im Netz verkaufen wollte. Für die Markteinführung hatten die Versicherungsmanager umfassende Studien vorbereitet. Depiereux und seine Leute hörten sich das an. Und kamen zu dem Ergebnis, dass es bis zur Umsetzung viel zu lange dauern würde. Sie hatten eine andere Idee.
An einer Skipiste hängten sie kurzerhand ein Plakat auf: "Wir zahlen, wenn Ihr Ski kaputt ist - Etventure-Versicherung." Sie verkauften die Versicherung an Ort und Stelle und probierten unterschiedliche Angebote aus: Mal gab es die Versicherung für fünf Euro, mal für zehn. Mal für einen Tag, mal für drei Tage. So hatten die Berater schnell einen Überblick, was bei den Kunden gefragt war. "Wir können das unter unserem Namen machen, die Versicherung hätte das natürlich nicht gekonnt", kommentiert Depiereux die Aktion. Die abgeschlossenen Verträge mussten dann allerdings auch erfüllt werden, das unternehmerische Risiko übernehme Etventure.
Der 37-Jährige räumt aber ein, dass solch ein Vorgehen längst nicht bei allen Produkten funktioniert. Wenn es um Fragen der Sicherheit gehe oder etwa bei forschungsintensiven Themen, sei dieser pragmatische Silicon-Valley-Ansatz nicht immer möglich. Aber auch für die Autozulieferindustrie könnten prinzipiell digitale Anwendungen entwickelt werden, um direkteren Zugang zum Kunden zu bekommen.
Die größte Hürde ist oft der interne Widerstand
Selbst in der so traditionsbewussten Stahlindustrie findet Etventure inzwischen Gehör. Beim Stahlhändler Klöckner mussten die Digitalberater in Sachen Internet ganz von vorn beginnen. In Duisburg ging es zunächst einmal darum, dass es einfacher ist, Bestellungen und Aufträge elektronisch abzuwickeln als per Fax. Mit ausgewählten Kunden wurde getestet, welcher Ansatz dafür optimal sein könnte. Jetzt sind sehr viele Stahleinkäufer an eine Kontrakt-Plattform im Internet angebunden. Die internen Widerstände zu überwinden wurde Depiereux zufolge dadurch erleichtert, dass Klöckner-Chef Gisbert Rühl voll und ganz hinter den Plänen stand.
"Deutschland ist ein Ingenieursland", sagt Depiereux. Zu seinen Auftraggebern zähle etwa ein Konzern, bei dem 40 000 Ingenieure darüber nachdenken, was der Kunde vielleicht brauche und wie das Produkt aussehen könnte, meint der Start-Up-Unternehmer, der selbst einst als Geschäftsführer eines mittelständischen Verpackungsfolienherstellers in der Old Economy Erfahrungen sammelte. Für langen Vorlauf und hypothetische Vorgehensweisen sei aber heute keine Zeit mehr: "Darum geht es vor allem bei der Digitalisierung: Um Schnelligkeit und radikale Konzentration auf den Nutzer." Bei Klöckner treiben sie das Thema jetzt auf allen Konzernebenen voran. Am Ende könne es dank der gesammelten Datenmengen dann eines Tages beispielsweise möglich sein, die zyklischen Schwankungen durch bessere Voraussagen deutlich zu reduzieren, glaubt der Digitalberater.
Tatsächlich scheint der Beratungsbedarf quer durch Deutschland hoch zu sein. Im ersten Quartal 2015 kamen mehr Aufträge herein, als die Firma im gesamten Vorjahr an Umsatz erzielte. Und vor zwei Jahren schrieb das Unternehmen bei einem siebenstelligen Jahresumsatz allein aus dem Beratungsgeschäft erstmals Gewinn. Den die Firma allerdings nicht näher beziffert.
Doch neben der Beratung gibt es noch eine zweite Säule: Etventure hilft auch anderen Start-Ups auf die Beine. Zwölf Unternehmen haben die Münchner, die auch Büros in Berlin, Hamburg, New York und Zürich unterhalten, inzwischen mit Kapital von Investoren ausgestattet. Normalerweise läuft das so: Ein Internetpionier präsentiert seine Idee und, falls Erfolg versprechend, sucht Etventure nach der Finanzierung einen passenden Unternehmer, einen "Entrepreneur", wie sie das nennen. "Nur ganz selten ist der Erfinder auch ein guter Unternehmer", begründet Depiereux dieses Vorgehen. Die Auswahlkriterien sind ungewöhnlich: "Wer schon einmal gescheitert ist, hat gute Voraussetzungen für einen Unternehmer." Vor allem, wenn er im Start-Up-Business aufgeben musste, sei das ideal: "Er hat alle Probleme dann schon einmal durch."
Der eigentliche Erfinder der Start-Up-Idee wird an dem Unternehmen in der Regel dann nur mit fünf Prozent beteiligt, es sei denn er bringt Kapital mit. Der von Etventure eingesetzte Chef und das Managementteam würden aus Motivationsgründen die Hauptbeteiligung halten. Die restlichen Anteile teilten sich Wagniskapitalfinanzierer und Etventure gleichberechtigt. "Wir haben die Philosophie: Die Idee ist nichts wert, es geht nur um die Umsetzung", begründet der Etventure-Chef die ungleichen Beteiligungsverhältnisse. "Der Ideengeber ist damit happy."
Zu den Investoren zählt der frühere Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski
Lange Verlustphasen toleriert Depiereux nicht. Die eigenen Start-Ups müssen sich schnell der Gewinnschwelle nähern: "Unsere Beteiligungen müssen sehr früh funktionieren." Für Etventure-Investoren dagegen halte sich das Risiko in Grenzen, da sie ja in eine Dachgesellschaft mit mehreren Start-Ups investierten. Einer dieser Investoren sei der frühere Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski.
Depiereux selbst ist aller Digitalisierungs-Euphorie zum Trotz übrigens keiner, der privat grenzenlos vernetzt ist. Im Gegenteil: Wenn im Freundeskreis jemand per Facebook mitteilt, dass der Sohn nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr an Bronchitis erkrankt ist, schickt er umgehend eine Warnung, das besser zu lassen. Denn es sei möglich, dass die Versicherungsgesellschaften auch solche Informationen auswerten. Und Dankeskarten schreibt er, ganz wie in alten Zeiten, per Hand.