Süddeutsche Zeitung

Vural Öger:"Diese geistige Brandstiftung ist sehr gefährlich"

Lesezeit: 5 min

CSU-Chef Seehofer auf Sarrazins Spuren: Was bewegt Vural Öger in der sehr populistisch geführten Debatte um Integration? Ein Gespräch über Fremdenangst und die Grenze zur Volksverhetzung.

M. Ahlemeier

Vural Öger, Jahrgang 1942, kam Anfang der sechziger Jahre aus der Türkei nach Deutschland. Er studierte an der Technischen Universität West-Berlin Hüttenwesen und Bergbau, später gründete er seinen eigenen Reisedienst - weil Charterflüge für türkische Gastarbeiter zurück in ihre Heimat fehlten. Eine echte Marktlücke. Öger war Mitglied der Einwanderungskommission unter dem Vorsitz der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Kurz nach der Bundestagswahl im September 2002 trat er in die SPD ein - wegen der restriktiven Haltung der Unionsparteien in der Zuwanderungsfrage.

sueddeutsche.de: Herr Öger, die Republik diskutiert hitzig über das Thema Zuwanderung. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer redet sogar von einem Zuwanderungsstopp für Türken und Araber. Wie sehr leiden Sie als erfolgreicher türkischstämmiger Unternehmer bei dieser Debatte?

Öger: Solche Äußerungen wie die von Herrn Seehofer und Thilo Sarrazin sind sehr kontraproduktiv. Menschen, die hier eingewandert sind oder deren Nachkommen fühlen sich durch solche Äußerungen als Menschen zweiter Klasse. Die in Deutschland geborenen Kinder werden dann schnell in eine Parallelgesellschaft getrieben. Das ist nicht integrationsfördernd. 40 Prozent der Türkischstämmigen, die hier in der Bundesrepublik ein Hochschulstudium hinter sich haben, gehen in die Türkei, das Land ihrer Vorfahren, zurück - weil sie laut Umfrage einer Stiftung ein fehlendes Heimatgefühl haben. Durch solche teilweise unsachlich und emotional geführten Debatten und Äußerungen fühlen sie sich in ihrem Innersten getroffen.

sueddeutsche.de: Was ist das ausschlaggebende Argument für eine Rückkehr in die Heimat der Eltern oder Großeltern?

Öger: Alle sagen mir, dass sie sich in der Türkei endlich wieder frei fühlen und ein besseres Selbstwertgefühl haben. Ich finde es traurig, dass Menschen, die hier bei uns geboren sind, dieses Land wieder verlassen aufgrund dieser Atmosphäre, die leider von den Seehofers und Sarrazins immer wieder vergiftet wird. Das kann nicht im Interesse unserer deutschen Gesellschaft sein.

sueddeutsche.de: Haben Sie selbst schon einmal darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen - weil Sie genervt waren von der Integrationsdebatte, die in unregelmäßigen Abständen immer wieder hochkocht?

Öger: Nein. Ich lebe in diesem Land seit meinem 18. Lebensjahr. Mittlerweile ist Deutschland für mich eine Heimat geworden und die verlässt man nicht so schnell. Ich bin ein demokratisch eingestellter Mensch und fühle mich in diesem Land nicht als Fremder. Berufsbedingt bin ich viel im Ausland unterwegs. Ich bin ein multikultureller Mensch und ich lebe damit sehr gut. Ich habe sehr viel von der deutschen Lebensweise und Kultur angenommen und habe einen Teil meiner türkischen Kultur behalten. Ich finde, dass die beiden Kulturen sich nicht ausschließen, im Gegenteil: Ich sehe sie als Bereicherung.

sueddeutsche.de: Sie gelten als Musterbeispiel für eine perfekte Integration. Gibt es nichts, dass Sie hierzulande stört?

Öger: Mich stört in diesem Land mittlerweile eines: Menschen türkischer Herkunft werden nicht als Deutsch-Türken oder Türken, sondern als Moslems bezeichnet. Hier werden Menschen - wenn man sie überhaupt klassifizieren muss - nicht nach ihrer ethnischen Herkunft, sondern über ihre Religion definiert. Letzten Endes bin ich deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft. Ich möchte nicht über eine Religion definiert werden, so denkt auch ein Großteil der Türken.

Die Türkischstämmigen in der BRD haben ein differenziertes Religionsverständnis: Es gibt Aleviten, liberale, säkular eingestellte und auch konservative. Alle haben eines gemeinsam: Sie distanzieren sich von einem politischen Islam. Manche Politiker in Deutschland sagen, bei uns in Deutschland leben wir nicht nach der Scharia, sondern nach dem Grundgesetz. Welcher Türke lebt einfach nach der Scharia? In der Türkei gilt auch ein Grundgesetz, dass dem in europäischen Ländern geltenden Grundgesetzen sehr ähnelt - also, was soll dieses Gerede?

sueddeutsche.de: Was ist Ihre Vermutung?

Öger: Ich finde es populistisch. Diese Art geistiger Brandstiftung ist sehr gefährlich, schürt Fremdenangst und grenzt an Volksverhetzung. Migration ist ein Prozess. Man kann nicht über Nacht Menschen aus anderen Ländern so integrieren, dass sie leben wie die Einheimischen. Unsere Aufgabe sollte sein, Menschen aus anderen Ländern und damit auch aus der Türkei zu Gleichwertigkeit und Selbständigkeit zu verhelfen. Es geht darum, Lösungen beizutragen, nicht um eine schiefe Bestandsaufnahme mit Scheinargumenten, falschen Annahmen und irrigen Schlussfolgerungen und willkürlich konstruierten Zusammenhängen. Diese Art der Argumentation ist kontraproduktiv. Damit erreicht man nichts.

sueddeutsche.de: Sie sagen selbst, Migration sei ein Prozess. Was ist in den vergangenen Jahren falsch gelaufen?

Öger: Es wurden zwei große Fehler begangen. In den sechziger Jahren und noch bis Anfang der siebziger Jahre ging die deutsche Gesellschaft davon aus, dass die Leute kommen und anschließend zurückgehen, sie sind vorübergehend da und damit Gastarbeiter. Spätestens in den siebziger Jahren, als die Frauen und Kinder hierherkamen, hat die Politik nicht erkennen wollen, dass Deutschland nun ein Einwanderungsland wird. Alle Parteien - rechts und links querdurch - haben gesagt, wir seien kein Einwanderungsland. Sie haben es sich sehr bequem gemacht. Man hat weder Sprach- noch Integrationskurse angeboten.

sueddeutsche.de: Und der zweite Fehler?

Öger: Zur Zeit der Regierung von Helmut Kohl in den achtziger Jahren hatte sich die Struktur der deutschen Wirtschaft bereits verändert. Manuelle Arbeit war nicht mehr verlangt, es gab mehr Technologie. Die Menschen wurden entlassen und ihrem eigenen Schicksal überlassen. Dann wurden Rückkehrprämien gezahlt. Die zweite Generation wurde in eine Gesellschaft hineingeboren, in der der Vater sagte: "Man will uns nicht, man will uns rausschmeißen." In dieser Atmosphäre wuchs die zweite Generation auf. Deren Kinder in der dritten Generation sind in einem Milieu aufgewachsen, wo in der zweiten Generation schon auch eine gewisse Neigung zu Tradition und Religion entstand. Unter diesen Umständen entstand für einen gewissen Teil der in Deutschland lebenden Türken ein idealer Nährboden für die Hinwendung zum Islam. Gerade die zweite Generation begann mit der Suche nach Identität. Die fühlten ihre Kultur nicht anerkannt und ihre Existenz nicht erwünscht. Dann haben sie in der Moschee ein warmes Nest gefunden. Die Hinwendung zu tradierten Werten und Religion fing in diesen Jahren an.

sueddeutsche.de: Ist das sogenannte Türkenproblem in der Bundesrepublik ein islamisches Problem?

Öger: Nein, es ist eher ein Unterschichtenproblem. Zu uns sind Menschen teilweise aus den hintersten Dörfern Anatoliens gekommen, Bauern und ungelernte Arbeiter. Es war nicht der türkische Mittelstand, der ausgewandert ist. Man brauchte nur die Arbeitskraft.

sueddeutsche.de: Sie selbst waren Mitglied der Zuwanderungskommission der Bundesregierung. Warum blieb die Arbeit des Gremiums ohne Erfolg?

Öger: Wir waren mehr als 20 gestandene Männer und Frauen, die eineinhalb Jahre lang diskutiert haben. Wir hatten damals einen tollen Entwurf, aber der wurde von der Politik verwässert. Gerade die C-Parteien aus dem Süden waren in jedem Punkt dagegen. Das heißt: Man will die Fakten nicht akzeptieren. Man neigt eher zum Populismus. Man glaubt damit, vom rechten Lager noch mehr Stimmen zu gewinnen. Das ganze Thema wird politisiert.

sueddeutsche.de: Ihr Wunsch?

Öger: Die ganze Problematik - Ausländer, Migration, Integration - müsste überparteilich behandelt werden. Wir haben Fakten - und wir haben Politiker, die diese Fakten einfach nicht akzeptieren wollen. Ich würde Herrn Seehofer gerne fragen, wie seine Lösung aussieht. Ein Großteil dieser Menschen hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die aktuelle Debatte ist integrationsfeindlich.

sueddeutsche.de: Hessens ehemaliger Ministerpräsident Roland Koch und auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, haben sich für eine gesteuerte Zuwanderung ausgesprochen. Wie müsste die Ihrer Meinung nach aussehen?

Öger: Derzeit verlassen mehr Türken die Bundesrepublik als zu uns kommen. Zu uns kommen zwecks der Familienzusammenführung nur noch rund 5000 bis 7000 Bräute aus den Dörfern. Zurzeit haben wir also ein Minus-Saldo. Es reist ja kaum einer zwecks Arbeitsaufnahme ein, darum verstehe ich die Debatte nicht. Das Hauptproblem ist nicht die Migration alleine, sondern eher die Integration der hier geborenen Kinder. Das ist unsere Hauptaufgabe.

sueddeutsche.de: Was kann die deutsche Wirtschaft von den aus dem Ausland stammenden und erfolgreich integrierten Mitarbeitern lernen?

Öger: Die Antwort können die Amerikaner den Deutschen geben: 20 Prozent des Bruttosozialprodukts in den vergangenen zehn Jahren in den USA entstanden durch die Zugewanderten. Ein Migrant hat drei Arbeitsplätze geschaffen. Das sind amtliche Zahlen. Hierzulande ist es so: Diejenigen, die unserer Wirtschaft nützlich waren, verlassen Deutschland wieder aufgrund der gesamten Atmosphäre, die in den letzten Jahren entstanden ist. Und die anderen, die von den Sozialkassen leben, bleiben bei uns, weil sie es in der Türkei nicht besser hätten. Was wir brauchen, ist eine groß angelegte und von der Politik und den Medien getragene Bildungsoffensive. Die Eingliederung der Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland erfolgt über Bildung und den Arbeitsprozess.

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