Schadet Instagram der mentalen Gesundheit von Teenagern? Kann die Plattform Mädchen in die Magersucht treiben? Werden Forschende ausgesperrt, die solche Fragen unabhängig untersuchen wollen? Glaubt man Instagram, lautet die Antwort dreimal nein.
Vor einigen Monaten aber tauchten interne Untersuchungen auf, die angeblich zeigen, dass Instagram die psychischen Probleme von Jugendlichen verschärfen kann. Die Studienlage ist unklar, doch viele Medien, Politiker und Eltern haben ihre Schlussfolgerung längst gezogen: Instagram ist toxisch.
Eine aktuelle Analyse dürfte diese Bedenken noch verstärken. Die Initiative Reset hat "Thinstagram" untersucht - den kleinen, aber gefährlichen Teil von Instagram, in dem Magersucht glorifiziert wird. Das Fazit der Studie: Instagram scheitert daran, besonders verletzliche Teenager ausreichend zu schützen und Inhalte zu entfernen, die Essstörungen verharmlosen oder verherrlichen. Nach Auffassung der Forschenden verschärft die Empfehlungslogik der Plattform das Problem. Wer einer Handvoll Konten aus der "Thinfluencer"-Szene folge, bekomme Beiträge und Accounts vorgeschlagen, die Gewichtsverlust glorifizieren. Die SZ konnte diesen Mechanismus mit eigenen Testprofilen verifizieren.
Essstörungen treffen vorwiegend Mädchen in der Pubertät, ältere Frauen, Jungen und Männer erkranken aber auch an Anorexie oder Bulimie. Die Corona-Pandemie hat das Problem verschärft: Einer Analyse der DAK zufolge ist die Zahl der Jugendlichen mit starkem Untergewicht im vergangenen Jahr um mehr als ein Drittel gestiegen, in Krankenhäusern werden zehn Prozent mehr Essstörungen stationär behandelt. Doch auch eine Therapie hilft nicht immer: Zwischen zehn und 15 Prozent der Patientinnen sterben, damit ist Anorexie die gefährlichste psychiatrische Erkrankung.
Forschende erstellten ein Fake-Profil mit Bildern von abgemagerten Körpern
"Wir nehmen die Themen mentale Gesundheit und Essstörungen sehr ernst", sagt Alexander Kleist, der Instagrams politische Interessen im deutschsprachigen Raum vertritt. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten habe man deshalb die Gemeinschaftsrichtlinien entwickelt. Dort beschreibt das Unternehmen, welche Regeln für Nutzerinnen und Nutzer gelten. Kleist zufolge versucht Instagram, einerseits schädliche Inhalte zu entfernen und es andererseits Menschen zu ermöglichen, über ihre persönlichen Erfahrungen mit Essstörungen zu sprechen.
Für die Analyse erstellte Reset ein anonymes Profil, auf dem zwar keine Gesichter zu sehen sind, dafür aber dürre Beine, knochige Hüften und Fotos, auf denen man jede Rippe einzeln zählen kann. In der ersten Woche teilten die Forschenden eine Handvoll Bilder und folgten einigen Dutzend Accounts, die extrem dünne oder eindeutig anorektische Schönheitsideale propagieren. Obwohl sie nach sechs Tagen jegliche Aktivität einstellten, gewann der Fake-Account konstant an Reichweite, derzeit hat er rund 900 Follower. Bereits am vierten Tag des Experiments meldete sich der erste selbsternannte "Ana-Coach" per Direktnachricht. Hinter diesen Accounts verbergen sich meist Männer, die vorgeben, den Mädchen beim Abnehmen helfen zu wollen. Sie verlangen dafür Fotos, angeblich um die Fortschritte beim Gewichtsverlust zu kontrollieren. Oft belästigen sie die betroffenen Teenager auch oder drohen mit sexualisierter Gewalt.
Reset wirft Instagram zwei zentrale Versäumnisse vor. Zum einen gelinge es der Plattform nicht zuverlässig, Fotos, Videos und Konten zu sperren, die gegen die Richtlinien der Plattform verstoßen. "Wir entfernen Inhalte, die Essstörungen verherrlichen oder Anregungen dazu geben", schreibt Instagram im Hilfebereich. Zwar werden bestimmte Hashtags und Suchbegriffe geblockt, dennoch gibt es Dutzende Stichwörter, über die sich problematische Inhalte finden lassen. Teils blendet Instagram vorher einen Hinweis ein und listet Hilfsangebote für Menschen auf, die sich in psychischen Notlagen befinden. In Deutschland sind das die Nummer gegen Kummer und die Telefonseelsorge. Teils fehlen aber auch Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen.
Instagram verbreite gefährliche Inhalte auch noch weiter, lautet ein Vorwurf der Forschenden
Der Umgang mit solchen Themen ist herausfordernd, schließlich tauschen sich über Instagram auch Teenager aus, die sich aus einer Magersucht herauskämpfen. Sie spenden sich gegenseitig Kraft und zeigen, dass Anorexie keine Einbahnstraße ist. Pauschal Fotos abgemagerter Körper zu löschen, ist also keine Lösung. Ein Teil der Beiträge bewegt sich aber nicht in einer Grauzone, sondern ruft offen zum Hungern auf und nutzt dabei einschlägige Hashtags und Codewörter. 14-jährige Mädchen dokumentieren ihren Gewichtsverlust. Mit jedem Kilo weniger und jeder Rippe mehr wird der Beifall lauter und die Bewunderung in den Kommentaren größer. Zumindest in diesen eindeutigen Fällen müsste Instagram seine eigenen Richtlinien konsequenter durchsetzen.
Zum anderen kritisieren die Forschenden, dass Instagram potenziell gefährliche Inhalte nicht nur übersehe, sondern auch noch weiterverbreite. Die Algorithmen der Plattform schlagen selbstständig Fotos und Videos junger Frauen vor, die bis auf die Knochen abgemagert sind. Selbst bei einem Kontrollprofil, dessen Alter aus Testzwecken mit 14 Jahren angegeben wurde, wimmelt der sogenannte Explore-Bereich von Beiträgen, die den Weg in die Magersucht weisen könnten.
Wohl nicht ganz zufällig kündigte Instagram am Dienstagmorgen, einen Tag vor der Anhörung im US-Kongress, eine Reihe von Maßnahmen für das kommende Jahr an. Neue Funktionen sollen Eltern mehr Kontrolle über den Social-Media-Konsum ihrer Kinder geben und junge Nutzerinnen und Nutzer schützen. Unter anderem sollen die Standardeinstellungen für die Konten von Teenagern überarbeitet werden, sodass sie seltener in Kontakt mit potenziell problematischen Inhalten kommen.
Für Reset ist das bestenfalls ein Anfang. "Mit blumigen Versprechungen haben sich Facebook und Instagram schon viel zu oft aus der Verantwortung gestohlen", sagt Felix Kartte, der die Arbeit von Reset in Deutschland leitet. "Was wir brauchen, sind Gesetze, die nicht nur sicherstellen, dass Sicherheitsmaßnahmen für Kinder vorhanden sind, sondern auch, dass sie tatsächlich funktionieren."