Philipp Depiereux, 39, saß selbst mal bei einem mittelständischen Unternehmen auf dem Chefsessel. Er hat dabei, wie er sagt, alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Einem Folienhersteller nahe Aachen sollte er wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen. Also hat er die Rollläden runtergelassen und sich dann in seinem Büro überlegt, was seine Kunden da draußen wohl wollen. "Wir haben ewig gebraucht, das Budget überzogen - und am Ende wollte keiner unser technisches Wunderding kaufen."
Nun, sechs Jahre später, versucht er den deutschen Mittelständlern genau dieses Denken auszutreiben. Seine Agentur Etventure ebnet etablierten Unternehmen den Weg ins digitale Zeitalter. Und zwar nicht, indem sie ihnen das Programmieren beibringen, sondern eine neue Art, die Dinge anzugehen: "Daten statt Bauchgefühl. Geschwindigkeit vor Kontrolle. Und: sich radikal auf den Kunden fokussieren."
Es ist der Geist des Silicon Valley - und das Gegenteil des Geistes, der derzeit viele deutsche Firmen prägt. Zwar ahnen die meisten Manager, dass sie zu langsam und zu vorsichtig sind, um in einer von technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen geprägten Zeit weiterhin gute Geschäfte zu machen. Die Frage ist nur, wie sie den Wandel schaffen - vom Grown-up zum Start-up.
Nur wer den Kunden kennt, kann neue Produkte entwickeln, um ihn zu begeistern
Das Familienunternehmen Haniel hat sich eine solche Frischenzellenkur verschrieben. Dort, wo Franz Haniel vor mehr als 150 Jahren die Kohle aus der Erde holte und so die Industrialisierung des Ruhrgebiets ermöglichte, soll nun der Treibstoff für die digitale Revolution gefördert werden: In einem ehemaligen Schalterhaus der Zeche Zollverein hat der Konzern offene Büros für sieben Mitarbeiter eingerichtet. Schacht One nennen sie das. Schlichte Möbel zwischen grauen Betonträgern, eine mit bunten Stiften bemalte Wand, an den alten grünen Elektrokästen eine Postkarte: "Denken ist wie googeln - nur krasser." Hier entstehen, mit der Hilfe von Etventure, Ideen für verschiedene Unternehmen, an denen Haniel beteiligt ist und damit jährlich 3,8 Milliarden Euro umsetzt. Zum Beispiel für die Firma Boco, die Arbeitskleidung an große Autohersteller oder kleine Fleischereien vermietet. Die hat die Truppe aus Schacht One gefragt, was sie so richtig nervt. Vor allem die Mitarbeiter bei Boco, die eigentlich den Kontakt zum Kunden halten, fanden das anfangs gar nicht gut. "Eine Mischung aus gekränktem Ego und Existenzangst" machte Depiereux unter den Vertrieblern der Firmen aus, die Etventure berät. "Viele haben die Haltung, den Willy, den kenne ich doch. Ich weiß doch, was der will. Aber wenn wir dann wirklich mal mit Willy sprechen, merken wir: Der will etwas ganz anderes."
Eine Idee, die in Schacht One für Boco entstanden ist: ein Terminal, bei dem die Kunden den auf ihrer Kleidung angebrachten QR-Code einscannen können, um Schäden zur Reparatur zu melden. Innerhalb eines Tages haben sie den Bildschirm eines solchen Terminals auf einem Tablet nachempfunden - und sind damit wieder raus zu den Kunden. Die Entwickler hatten sogar noch eine Taste vorgesehen, mit dem der Kunde im Callcenter hätte anrufen können. Doch genau die, so stellten sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, fanden viele Kunden überflüssig: "Die wollen gar nicht, dass ihre Mitarbeiter ständig mit den netten Damen telefonieren", erzählt einer der Berater von Etventure.
Mit dem Terminal wird es einfacher, die kaputte Kleidung zur Reparatur einzuschicken. Das ist das Versprechen, das Boco nun seinen Kunden geben kann. Zugleich aber knüpft das Unternehmen so erstmals einen direkten Draht zu demjenigen, der sich täglich diese Kleidung überstreift. Und genau das ist es, was ein Start-up erst erfolgreich macht: Es ist nah am Nutzer, lernt seine Bedürfnisse noch besser kennen - und entwickelt neue Ideen, mit deren Hilfe sich Bedürfnisse noch besser bedienen lassen. Ideen, auf die man allein am Schreibtisch gar nicht gekommen wäre. 18 Wochen hat es gedauert von den ersten Interviews mit Kunden bis zum Entwurf des Terminals. In der Zeitrechnung von Konzernen, in der jeder Schritt über viele Hierarchiestufen abgestimmt werden muss, ist das ein enormes Tempo.
Ein Tempo, das sich viele an der Spitze deutscher Konzerne wünschen. Tim Höttges zum Beispiel. Der 54-Jährige führt seit knapp drei Jahren die Deutsche Telekom. Ehe er den Chefposten antrat, war er zur Summer School im Silicon Valley. Und an diesem Wochenende trifft er Gründer in Israel. Er kann davon schwärmen, wie die Leute dort beim Lunch an einem Tisch sitzen und einfach loslegen. Und darüber schimpfen, wie viel behäbiger es in der Bonner Konzernzentrale zugeht. Als eine Art Gegenentwurf hat die Telekom vor viereinhalb Jahren in Berlin den Hubraum eingerichtet, einen Brutkasten für Gründer. Dort bekommen die Start-ups einen Schreibtisch, strategische Tipps und bis zu 300 000 Euro Anschubfinanzierung. Die Telekom erhält im Gegenzug Anteile an den aufstrebenden Firmen - und Impulse für eine Zeit, in der die Menschen zwar weniger telefonieren, aber dafür immer mehr im Netz erledigen. Andere Konzerne, etwa Allianz, Daimler oder Siemens, haben ähnliche Inkubatoren. Auch weil es in Konzernen eine Tendenz gebe, "alle, die neue Ideen einbringen, kleinzureden und tot zu machen", sagt Janina Kugel, im Vorstand von Siemens für Personal zuständig. "Wir müssen Freiräume schaffen für Mitarbeiter, die sich auch Themen anschauen, in denen wir in fünf Jahren noch kein Geschäft sehen." Siemens tüftelt in solch einem Freiraum beispielsweise mit Airbus an Flugzeugen mit Elektroantrieb.
Die Telekom hat als einer der ersten deutschen Konzerne einen Brutkasten für Gründer eingerichtet, weil das Unternehmen die Wucht, mit der die neuen Angreifer ihr Geschäft zerstörten, früher spürte als Versicherungskonzerne, Autohersteller oder Maschinenbauer. Aber auch Höttges weiß, dass solch ein Labor erst der Anfang ist. "Manchmal muss Innovation der Virus sein, der den Konzern infiziert", sagt er. "Und es ist mein Job als Konzernchef, sicherzustellen, dass es dann keine allergische Reaktion gibt, sondern dass wir von diesem neuen Geist angesteckt werden." Deutschland habe das falsch angepackt, sagt die BASF-Managerin Margret Suckale. Die Debatte um die Digitalisierung sei hier zu sehr getrieben von der Angst, Jobs zu verlieren. "Natürlich ist das eine enorme Veränderung. Aber Veränderungen hat es immer gegeben." Vor 30 Jahren musste ein Chemielaborant hart arbeiten, heute sitze er vor Bildschirmen. "Da sagt keiner: Hätten wir das mal bewahrt, dann wären wir mehr an der frischen Luft."
Felix Reinshagen, 38, ist einer der jungen Wilden. Mit drei anderen hat er vor drei Jahren das Start-up Navvis gegründet, das sich nicht weniger vorgenommen hat, als ein digitales Abbild von Gebäuden zu schaffen. Für Hausmeister, Museumsbesucher oder Passagiere am Flughafen. Dazu haben sie einen Trolley, der Räume mit Lasern und Kameras scannt und davon zentimetergenau 3-D-Bilder in Rundumsicht erstellt. "So etwas wie ein Google-Street-View-Auto - nur zum Schieben." In 20 Ländern bieten sie Unternehmen ihre Dienste bereits an. Bislang gibt es kaum einen Konkurrenten, der da mithalten kann.
Aber Reinshagen macht sich keine Illusionen: "Wir müssen aufmerksam bleiben, um unseren Vorsprung nicht einzubüßen." Deshalb investieren sie mehr als etablierte Firmen in die Forschung, deshalb halten Kontakt zu ihrer Uni in München, und deshalb steckt auch im Gründerteam mehr technisches als betriebswirtschaftliches Know-how. Etwas, was sie sich in der Autoindustrie abgeguckt haben: "Dort war es auch immer wichtig, dass ein Car Guy an der Spitze steht", sagt Reinshagen. "Nur so einer kann die Entwicklung antizipieren."
Experimentierfreude nur nicht ersticken - und Fehler so früh wie möglich machen
Nicht nur die Grown-ups lernen also von den Start-ups, auch die Start-ups lassen sich von den Grown-ups inspirieren. "Es geht darum, dass Unternehmen zusammenarbeiten, die vorher nicht gedacht haben, dass sie sich brauchen", sagt Siemens-Managerin Kugel. Zu glauben, ein Unternehmen müsse alles allein machen, sei überholt. Und Telekom-Chef Höttges glaubt, dass dieser tief verankerte Glaube ein Grund dafür war, dass Deutschland bei der ersten Welle der Digitalisierung von den Amerikanern abgehängt wurde. "Jetzt machen wir das besser."
Das Qualitätsversprechen des "Made in Germany", so hat es etwa Reinshagen kürzlich in China erlebt, ist nach wie vor etwas wert in der Welt. Hier wird eben nicht nur irgendeine App für Teenager entwickelt, die auch mal abstürzen darf. Hier werden Autos, Turbinen, Flugzeuge gefertigt. Die müssen funktionieren. Das ist der andere Grund, warum Labore wie der Hubraum oder Schacht One vom eigentlichen Konzern abgekoppelt sind. Es geht nicht nur darum, die Experimentierfreunde der jungen Wilden nicht zu ersticken. Es geht auch darum, frühzeitig jene Fehler zu machen, die im alltäglichen Geschäft keinesfalls passieren dürfen.